Herrin der Lüge
Köpfe, um den scharfkantigen Hindernissen auszuweichen.
Der alte Mann führte sie weiter bergab, in spitzem Winkel fort von dem Weg, der sich oben am Osthang der Schlucht entlangzog. Der Pfad, den sie benutzten, war kaum als solcher zu erkennen, und keinem Ortsunkundigen wäre wohl aufgefallen, dass es an dieser Stelle überhaupt so etwas wie eine Schneise durch das Dickicht gab.
»Weiß Achard von diesem Weg?« Faun war froh, sich über etwas anderes als zerschmetterte Kinder und tote Falken Gedanken machen zu müssen.
»Unter seinen Leuten gibt es Fährtenleser, die sich weit besser in der Via Mala auskennen als ich.« Elegeabal duckte sich und warnte sie vor einem tief hängenden Ast, der in der Dunkelheit nahezu unsichtbar war. »Jeder Stein, jeder Baum hier ist ihnen vertraut. Aber sie wissen wenig über die Höhlen, weil sich keiner von ihnen dort hineinwagt, seit sie mein Drachenkind gesehen haben. Erst recht nicht, seit immer wieder die Erde bebt.«
Tiessa starrte schweigend vor sich hin. Faun machte sich Sorgen um sie, aber im Augenblick war es wichtiger, dem Herrn von Hoch Rialt und seinen Männern zu entkommen.
»Höhlen?«, fragte er zweifelnd. Bei Nacht und an einem Ort wie diesem waren die Vorstellung noch tieferer Finsternis und Abgeschiedenheit schwer zu ertragen.
Elegeabal kicherte leise, und da ruckte Tiessas Kopf in die Höhe. Tränen der Wut und des Zorns schimmerten schwach auf ihren Wangen. »Dieser kleine Junge ist tot«, fauchte sie den Alten an. »Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt.«
Der Traumdeuter blieb stehen und drehte sich zu ihnen um. Die Stute wieherte leise, als Faun sie ruckartig anhalten ließ. »Achards Sohn ist tot?« Hatte Elegeabal zuvor noch beunruhigt, aber nicht verstört geklungen, so lag nun Panik in seiner Stimme. »Was genau ist geschehen?«
Da erzählte Faun ihm alles, hastig und im Flüsterton. Wie sich herausstellte, war Elegeabal nach Beginn des Angriffs aus der Burg geflohen. Angeblich hatte er gehofft, die beiden würden ebenfalls eine Möglichkeit zur Flucht finden. In Wahrheit, so dachte Faun, hatte er sich wohl nur im Unterholz des Plateaus in Sicherheit gebracht und dabei gehöriges Glück gehabt, nicht dem Mann mit der Armbrust über den Weg zu laufen. Wahrscheinlich war er nicht durchs Tor hinausgelaufen, sondern kannte einen anderen, geheimen Weg aus der Burg. Als Faun seine Vermutung aussprach, nickte der Alte und erklärte, dass er sie auf eben jenem Weg aus der Festung geführt hätte, wäre ihnen nicht der Überfall zuvorgekommen. »Ich pflege meine Versprechen zu halten«, sagte er. »Obwohl der Tod des Kleinen einiges ändert.«
»Nicht für uns«, entgegnete Faun.
»Oh, doch«, widersprach der Traumdeuter. »Ganz sicher sogar. Ohne euch wäre es gar nicht erst so weit gekommen. Achard wird voller Hass sein auf jeden, der mit Achims Tod zu tun hat. Wahrscheinlich rüstet er in gerade diesem Augenblick einen Trupp aus.«
»Wird er nicht erst sein Kind begraben?«, fragte Faun.
Der alte Mann schnaubte abfällig. »Der Kleine war Achards Faustpfand, das ihm die Macht über diese Burg und die Via Mala gesichert hat. Das alles hier gehörte einst den Vorfahren der Dame Jorinde, Achards Gemahlin. Als sie sich mehr und mehr gegen ihn und sein Treiben gestellt hat, hat er sie gezwungen, mit auf diesen verrückten Kreuzzug zu gehen. Ein sauberer Weg, um sie loszuwerden. Denn wenn Jorinde umkommt, fällt Hoch Rialt nicht an ihren Mann, sondern an ihren Sohn – so lautet das Gesetz. Für Achard wäre das eine gute Lösung: Jorinde stirbt mit all den anderen Mädchen, er aber erzieht den Kleinen in seinem Sinne und hütet ihn als Erben der Burg wie seinen Augapfel.« Er seufzte. »Der Tod des Jungen ändert alles. Es gibt kein anderes Kind. Und Jorinde ist fort. Das bedeutet –«
In jähem Begreifen fiel Faun ihm ins Wort: »Das bedeutet, dass er kein Anrecht mehr hat auf Hoch Rialt und den Weg durch die Via Mala! Keine Zölle mehr – und keine Möglichkeit, Händler und Pilger auszurauben!«
»So ist es. Jorindes nächste Verwandte, denen Achard seit jeher ein Dorn im Auge war, werden auf kaiserliches Recht pochen und Achard zur Not mit Waffengewalt von hier vertreiben lassen.«
»Und er kann nichts dagegen tun?«
»Doch«, sagte Elegeabal, »das kann er. Falls Jorinde ihm einen zweiten Sohn schenken würde, ein weiteres Kind, dann sähe die Sache ganz anders aus. Aber Jorinde ist im Gefolge der Magdalena unterwegs ins Heilige Land.«
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