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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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trampelte über einen dritten hinweg.
    Faun tat es ihr gleich. Überall blitzten Klingen im Fackelschein. Auch die Torwächter sprangen jetzt vor. Statt den Flügel zu schließen, machten sie sich auf, die beiden Flüchtigen einzufangen, wohl in der Hoffnung auf eine Belohnung für jenen, der sie dingfest machte.
    »Zur Seite!«, brüllte Faun, nicht weil ihm am Wohlergehen der Räuber lag, sondern weil es das Einzige war, das ihm einfiel, und ihm die Worte wie von selbst über die Lippen kamen.
    Die Stute raste hinter Tiessas Schimmel her. Er saß wie betäubt im Sattel, hielt sich an den Zügeln fest und sah das Tor näher kommen. Ein letzter Blick über die Schulter auf die Kämpferschar, die ihnen nachströmte, schließlich hinauf zum Turm – und dann die Erkenntnis, was gerade dort oben geschah.
    Der Falkner verlor endgültig die Geduld mit seiner strampelnden Geisel. Das Schwert entglitt seiner Hand, als das Kind in seinen Unterarm biss. Er stolperte nach vorn gegen die Brüstung und fluchte.
    Angewidert ließ er den Jungen fallen.
    Faun sah nicht mehr, wie das Kind auf die Felsen prallte. Er hörte Achards Aufheulen und blickte voraus zum Tor. So weit und groß und dunkel schien ihm der Spalt, breit genug, um hindurchzugaloppieren – und er entdeckte die Gestalt in Silber und Schwarz, die plötzlich dort stand, eine Armbrust im Anschlag. Der Bolzen zielte auf Tiessa. Vielleicht auf ihr Pferd.
    Das Mädchen stieß ein Pfeifen aus, und im selben Moment raste etwas aus dem Nachthimmel herab, fegte auf den Ritter mit der Armbrust zu und hackte nach seinen Augen. Der Mann schrie auf, taumelte zur Seite und gab den Weg frei. Räuber wurden beiseite geprellt, Körper wirbelten in die Schatten, als die beiden Rösser durch den Torspalt jagten, hinaus auf das Plateau, aus dem goldenen Schein der Fackeln in die Finsternis des Gebirges.
    Tiessa sah beim Reiten nach hinten. Faun riss den Kopf herum. Ein Dolch blitzte, als sich der Ritter den Vogel mit links vom Gesicht riss und mit der Rechten zustach. Die Klinge drang durch Gefieder und Knochen. Der Falke kreischte auf. Seine Schwingen erschlafften. Der Ritter schleuderte ihn beiseite und hielt sich schreiend die blutenden Augenhöhlen. Einen Herzschlag später traf ihn der Schwerthieb eines Räubers und spaltete Schulter und Brust.
    »Sturm!« Tiessa stieß ein Heulen aus und wäre beinahe aus dem Sattel gerutscht, hätte Faun sein Pferd nicht an ihre Seite getrieben und sie im selben Moment zurückgestoßen.
    Noch einmal rief sie verzweifelt den Namen des Falken, dann preschten sie davon, fort vom Tor und der Leiche des Ritters, fort von den Männern, die in immer größerer Zahl ins Freie drängten, Klingen schwenkten und Flüche brüllten. Die Steinschleuder wirbelte in einem zischenden Kreis über dem Kopf eines Kriegers, doch das Geschoss ging fehl und verschwand im Laub einer Baumkrone. Eine Eule stob auf und flatterte davon.
    Faun versuchte, dies alles auszublenden, wollte sich nur auf den Weg konzentrieren, auf die Schwärze der Gebirgsschlucht. Tiessa hatte Sturm verloren, Achard seinen Sohn. Die übrigen Ritter wurden zweifellos gerade von den Räubern in Stücke gehackt, und einmal war ihm, als hörte er den Schrei des Falkners jenseits der Mauern, so schrill und hoch, als wäre er selbst ein Raubvogel, der ein letztes Mal die Stimme erhob und seinen Zorn hinauskreischte. Dann brach auch dieser Laut ab, gefolgt vom Brüllen des Ritters von Rialt, das ihnen geisterhaft den Pfad entlang folgte und vibrierend von den Felswänden widerhallte.
    Sie sprachen nicht, sahen einander nicht an. Hielten sich nur an den Zügeln fest und ritten hinab in die Schlucht, tiefer in die Finsternis.
    Eine Gestalt schälte sich vor ihnen aus der Nacht, stand mitten auf dem Weg. Fauns Stute hätte sie beinahe umgerannt.
    »Haltet ein!«, rief eine brüchige Stimme.
    »Elegeabal«, flüsterte Tiessa. Sie klang schrecklich, fand Faun – dabei brachte er selbst keinen Ton heraus.
    »Vertraut mir!« Der Alte deutete auf eine Schneise zwischen den Bäumen, eine Wunde im Gewebe der Nacht. »Hier entlang! Schnell!«
     

Ins Dunkel
     
    Und so betraten sie die Via Mala. Elegeabal trug eine Öllampe und wies sie an, von den Pferden zu steigen und die Tiere an den Zügeln zu führen. Wenig später erkannten sie den Grund. Die Zweige hingen so tief, dass ein Durchkommen zu Ross unmöglich war. Selbst im Gehen schlugen ihnen Äste und Fichtennadeln ins Gesicht. Auch die Pferde senkten die

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