Herrin der Lüge
Wieder lachte er, ein humorloses Raspeln. »Achard wird in diesen Minuten weniger um sein Kind trauern, als seinen eigenen Fehler verfluchen. Er braucht Jorinde zurück, und er wird versuchen, sie einzuholen, bevor sie an Bord eines Schiffes geht und für immer verschwindet.«
Tiessa horchte auf. »Dann wird er nicht uns verfolgen, sondern sie!«
Im Halblicht der Öllampe nickte der Traumdeuter. »Dumm nur, dass ihr denselben Weg nehmt. Achard wird euch die ganze Zeit über im Nacken sitzen, und möglicherweise holt er euch ein. Vielleicht sogar schon hier in der Schlucht.«
Für einen Augenblick erfüllte die Ausweglosigkeit ihrer Lage Faun mit Verzweiflung. Nun mussten sie nicht nur versuchen, Saga und die anderen rechtzeitig einzuholen – auf ihren Fersen würden bald auch noch Achard und seine Mörderbande sein. Und der Herr von Hoch Rialt würde gewiss nicht vergessen, wem er dies alles zu verdanken hatte.
»Kannst du uns helfen?«, fragte er den Traumdeuter.
»Lebend durch die Via Mala zu kommen – vielleicht. Aber ich lege meine Hand nicht dafür ins Feuer. Der Hauptweg, den Achard nehmen wird, ist trotz aller Schwierigkeiten die einfachste Route. Kann sein, dass er noch sicher ist. Aber die Höhlen? Wir können es nur darauf ankommen lassen.« Der Alte klang jetzt gar nicht mehr so, als machte er sich einen Spaß daraus, ihnen Angst einzujagen. Wahrscheinlich wurde ihm gerade bewusst, auf was er sich eingelassen hatte.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Faun.
»Durch die Höhlen des Drachen werden uns Achards Fährtensucher nicht folgen, falls sie es wirklich so eilig haben, wie ich glaube.«
»Das gefällt mir nicht«, bemerkte Tiessa.
»Und das ist gut so.« Der Traumdeuter eilte weiter den Hang hinab. »Vielleicht macht dich das vorsichtiger, und du achtest darauf, dass dein Gaul nicht gar so viele Äste zerbricht wie bisher. Sie mögen uns nicht in die Höhlen folgen, aber wer weiß, ob sie nicht auf die Idee kommen, uns vorher einzuholen.«
Tiessa sah erschrocken nach hinten, aber Faun schüttelte sachte den Kopf. »Lass ihn reden. Wenn sie unsere Spur suchen, werden sie sie finden, egal, ob da zerbrochene Äste sind oder nicht.«
Während sie weitergingen, flüsterte sie beruhigend auf den Schimmel ein, und tatsächlich schien es, als bewegte sich das Tier nun mit größerer Vorsicht durch das Dickicht. Elegeabals Öllampe tanzte im Dunkeln auf und ab, der Mann selbst aber war vor ihnen nicht mehr zu sehen.
»Er hätte den Jungen begraben müssen«, murmelte Tiessa und wischte sich mit dem Handrücken über die Wange, so fahrig und wütend, als ärgerte sie sich darüber, ihre Gefühle nicht besser im Griff zu haben. »Das hätte er wirklich.«
Faun sagte nichts, schaute nur nach vorn und beschleunigte seine Schritte.
»Still!«
Plötzlich war Elegeabal wieder bei ihnen. Finsternis umgab sie, nur zwischen den Fichtengipfeln spannte sich ein Netz aus grauem Mondlicht. Kaum etwas davon gelangte bis zum Boden.
Der Hang war jetzt so abschüssig, dass sie nicht mehr in gerader Linie nach unten gehen konnten, sondern in weitem Zickzack fast parallel zum Flussbett wandern mussten. Den Pferden fiel es schwer, sicheren Halt zu finden. Das Rauschen des Wassers stieg vom Grund der Schlucht zu ihnen empor, aber sehen konnten sie nichts von dem schmalen Zufluss des Rheins, der auf seinem Weg von der Quelle vor Urzeiten die Via Mala aus dem Gestein geschnitten hatte.
»Hufschlag«, flüsterte Tiessa. »Oben auf dem Weg.«
Faun presste die Lippen aufeinander. Achard und seine Männer waren also bereits unterwegs, viel schneller, als er für möglich gehalten hatte. Elegeabal hob die Lampe und legte in ihrem Schein einen Finger an die Lippen. Mit einem Wink gab er ihnen zu verstehen, ihm wortlos zu folgen.
Hundegebell ertönte in ihrem Rücken, weiter oben im Hang.
Tiessa blickte über die Schulter zurück zu Faun, vorbei an ihrem Pferd. Er sah sie jetzt nur noch als Silhouette vor dem Lampenschein an der Spitze ihres kleinen Zuges.
Das Rauschen war lauter geworden, aber Faun wurde erst bewusst, dass sie den tiefsten Punkt der Schlucht erreicht hatten, als Tiessas Schimmel vor ihm ins Wasser patschte. Kies und Geröll scharrten unter den Hufen.
»Ans andere Ufer«, rief Elegeabal gedämpft.
»Vielleicht verlieren die Hunde im Wasser unsere Spur«, sagte Faun.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Nicht Achards Panzerhunde.«
»Was sind Panzerhunde?«, fragte Tiessa.
»Bete, dass du sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher