Herrin der Lüge
ihn zu. Mit einem Blutschweif stürzte einer von Achards Gefolgsleuten in die Tiefe. Faun stieß sich mit beiden Füßen von der Bordwand ab, schwang an der Leiter zur Seite und wich dem Leichnam aus. Eine Stiefelspitze erwischte ihn an der Schulter. Er brüllte auf, verlor den Halt – und fiel rückwärts in die schäumenden Wogen.
Wasser drang ihm in Augen und Mund. Um ihn wurde es jäh stockfinster. Er strampelte mit Armen und Beinen, hörte gedämpft entsetzlichen Lärm – Wellen, die sich an dem ankernden Schiffsrumpf brachen – und stieß unverhofft wieder mit dem Gesicht durch die Oberfläche. Er sah nur verschwommen, hörte nichts als Ächzen und Rauschen und Donnern, schluckte abermals Salzwasser und bekam für einen Moment keine Luft mehr. Dann konnte er wieder sehen – und erkannte den Umriss des Ruderbootes, das sich gerade genau auf ihn zubewegte, nicht gesteuert, sondern vom Meer in seine Richtung geworfen. Hinter ihm war die Saragossa, und er wusste, was das bedeutete.
Es war zu spät, um zur Seite hin auszuweichen. Stattdessen streckte er die Beine, wedelte die Arme nach oben weg und sank steil in die Tiefe. Er verlor jedes Gefühl dafür, wie tief er sich unter der Oberfläche befand. Vielleicht nur eine Elle – nicht genug! Da ertönte über ihm schon ein grauenvolles Krachen und Knirschen, Holz das auf Holz traf. Zugleich erfasste ihn eine Strömung und warf ihn mit dem Rücken gegen etwas ungeheuer Hartes, Massives – den Rumpf der Saragossa. Muschelkanten schnitten durch seine Kleidung, womöglich durch seine Haut. Die Schmerzen vermischten sich zu einem einzigen unerträglichen Lodern zwischen seinen Schulterblättern. Trotzdem stieß er sich irgendwie ab, noch immer blind, schoss vorwärts und dann – weil ihm die Luft ausging und seine Panik die Oberhand gewann – wieder nach oben.
»Faun! Halt dich am Ruder fest!«
Er bekam tatsächlich etwas zu fassen, wurde herumgewirbelt, konnte sich aber halten und an der glatten Ruderstange entlanghangeln. Tiessa streckte ihm die Hände entgegen, und dann war da die Kante des Ruderbootes, und er zog sich hoch in Sicherheit. Die Saragossa erhob sich auf der anderen Seite, ein kolossaler Schatten, umrahmt vom Glühen der Morgendämmerung und etwas anderem, hellerem, schlaglichtartigem.
Blitze! Das Gewitter kam näher. Der Lärm, der gleich darauf folgte, war echter Donner, nicht mehr der Zusammenstoß des Bootes mit der Galeere.
Ihm blieb keine Zeit, um zu Atem zu kommen. Tiessa brüllte ihn an, aber er verstand nur die Hälfte und wusste nicht einmal, ob ihre Stimme wirklich so laut war oder ob ihm das nur so vorkam, weil er gerade noch dort unten gewesen war, in der tauben Leere des Meeres. Er rückte auf eine Bank, nahm ein Ruder in beide Hände und versuchte nicht auf die Rufe zu hören, die von der Reling der Saragossa zu ihnen herabdrangen.
Sie bekamen das Ruderboot unter Kontrolle, sicher nicht besonders elegant, und wahrscheinlich machten sie alles falsch, was es nur falsch zu machen gab. Aber irgendwie löste es sich von dem riesigen Segelschiff und bewegte sich schlingernd aufs Land zu. Bald schon wurde es von den Wogen gepackt, die ans Ufer rollten. Sie taten sich schwer, ihre Ruderbewegungen aufeinander abzustimmen, und weil Faun kräftiger war als Tiessa, drohte sich das Boot immer wieder zu drehen und quer zu stellen.
Ihre Blicke berührten sich, und Faun las in Tiessas Augen dieselbe Panik, die ihm selbst die Kehle zuschnürte.
Die verästelte Glut der Blitze füllte jetzt mehr und mehr den ganzen Himmel, die Donnerschläge folgten in immer kürzeren Abständen. Faun wusste, dass man sich bei Gewitter nicht auf flachem Land aufhalten sollte, und er fürchtete, dass es sich mit der offenen See genauso verhielt. Er hatte einmal eine Kuh gesehen, die von einem Blitz gefällt worden war; ein anderes Mal einen Wagen, der ausgebrannt an einem Kreuzweg gestanden hatte, die verkohlten Leichen der Insassen im Inneren festgebacken wie Brot auf heißem Stein. Die Vorstellung, den Blitzen schutzlos ausgeliefert zu sein, egal, was sie auch taten, machte ihn rasend. Sie mussten noch schneller werden, irgendwie an Land kommen. Dort gab es Felsen, zwischen denen sie in Deckung gehen konnten. Was dahinter lag, blieb unsichtbar.
Etwas krachte vor ihm in die Planken des Bootsrumpfes. Ein Eichenbolzen, fingerdick und vibrierend. Faun sah über die Schulter zurück zum Schiff. Die Distanz war größer, als er vermutet hatte, aber nicht zu groß
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