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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Halbkreis zu beiden Seiten des Paars.
    Otto von Braunschweig erhob sich von seinem Stuhl, einem identischen Gegenstück zu jenem, auf dem seine Braut wie festgewachsen saß. Er war fünfunddreißig Jahre alt, sah aber viel jünger aus: dunkelhaarig, bartlos, mit dichten Brauen und einem Grübchen am Kinn, das ihn beinahe verschmitzt erscheinen ließ. Er hatte etwas von einem Jungen an sich, der alles, was um ihn herum geschah, mit einem Lächeln abzutun pflegte, mit jener Mischung aus Aufsässigkeit und Arroganz, die viel mit Jugend und wenig mit seiner hohen Stellung zu tun hatte.
    Faun und Zinder fielen auf die Knie und senkten die Häupter.
    »Willkommen«, sagte der Kaiser freundlich.
    Das war die erste Überraschung.
    Die zweite war, dass er so ganz anders wirkte, als Faun ihn sich vorgestellt hatte. Otto und seine Welfenverwandtschaft hatten ein ganzes Reich mit Bürgerkrieg überzogen, einem Krieg, der Zigtausende das Leben gekostet hatte – darunter Fauns ältere Brüder. Otto hatte sich den Thron nach dem Tod seines Feindes entgegen aller Widerstände erkämpft, jetzt nicht mehr mit dem Schwert, sondern durch Diplomatie und List. Und er hatte dafür einer Hochzeit mit einem Mädchen zugestimmt, von dem er wusste, dass es ihn aus tiefstem Herzen hassen musste. Nichts von alldem hatte auf einen sympathischen Mann schließen lassen.
    Aber als Faun ihn nun zum ersten Mal sah, dachte er, dass es unmöglich war, ihn nicht auf Anhieb zu mögen. Nicht etwa, weil er so angenehm anzusehen war, anmutig gar, oder weil Klugheit aus seinen Augen sprach und Tatkraft aus seinem ganzen Auftritt – all das traf zu, und doch war es nicht das, was Otto von Braurrschweig, den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, beim ersten Ansehen wie einen wahren Herrscher erscheinen ließ. Da war noch etwas, und es war weit weniger fassbar als all die anderen Dinge, die zu seinen Gunsten sprachen. Vielleicht seine Stimme. Sein ansteckendes Lächeln. Oder einfach nur die Tatsache, wie er jetzt ohne Scheu oder Furcht vor einem Anschlag auf die beiden zukam – »Erhebt Euch! Bitte, steht auf!« – erst Zinder, dann Faun auf die Schulter schlug und sagte: »Ich danke Euch von ganzem Herzen, dass Ihr mir meine Braut zurückgebracht habt.«
    Faun wagte nicht, Tiessa anzusehen, weil der Kaiser ihm nun direkt ins Gesicht blickte. Er wusste nicht mehr, wie er dastehen sollte, stocksteif oder eher gelöst, weil er sich plötzlich selbst einer so profanen Tätigkeit wie des Stehens viel zu bewusst war. Seine Stimme stockte, aber Zinder sagte: »Es war uns eine Ehre, Majestät. Wir haben nur getan, was jeder Eurer treuen Diener getan hätte.«
    Das klang angemessen hochgestochen, aber Faun war dennoch nicht sicher, ob das die rechte Art und Weise war, einen Kaiser anzusprechen. Womöglich wurde erwartet, dass sie einfach den Mund hielten. Scharffenberg jedenfalls schnaubte vernehmlich.
    Der Kaiser drehte sich um und ging zurück zu seinem Platz. Faun nutzte die Gelegenheit, Tiessa einen Blick zuzuwerfen. Sie musste ihn die ganze Zeit über angestarrt haben, aber jetzt senkte sie blitzschnell die Augen. Sie sah traurig aus. Faun, der doch eigentlich wütend auf sie sein wollte, spürte einen Stich in der Brust, der allen Zorn vertrieb.
    »Nun«, begann der Kaiser, nachdem er sich wieder hingesetzt hatte. Er schob seine Hand über Tiessas zarte Finger auf der benachbarten Stuhllehne, sah sie aber nicht an. Stattdessen blieb sein Blick auf Faun und Zinder gerichtet. »Nun«, sagte er noch einmal, »wie Ihr wisst, befinden wir uns im Krieg, und ich will nicht viele Worte machen. Ihr beide sollt eine Belohnung erhalten.«
    Faun schluckte, während Zinder keine Miene verzog. »Das ist sehr großzügig«, sagte er. Faun an seiner Stelle hätte wohl erwidert, dass eine Belohnung nicht nötig sei, aber möglicherweise hätte der Kaiser – ganz sicher aber Scharffenberg – das als Affront missverstanden. Es war wirklich am besten, wenn er das Reden Zinder überließ.
    »Meine künftige Kaiserin hat einen Vorschlag gemacht, was dein Lohn sein soll, Söldnerhauptmann«, fuhr der Kaiser fort.
    Zinders linke Braue ruckte nach oben, und sein Blick flackerte zu Tiessa hinüber, nur um sofort wieder zu Otto zurückzukehren.
    »Die Prinzessin berichtete mir von deinem Wunsch, ein Stück Land zu besitzen, das du bestellen willst. Das ist ein sehr anständiges, rechtschaffenes Streben, das ich dir nur zu gern erfüllen will. Auf meinen Ländereien nahe Braunschweig

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