Herrin der Lüge
bestätigte Karmesin.
»Was ist mit den kleineren Inseln auf dem Weg nach Rhodos?«, fragte Berengaria. »Das Ägäische Meer wimmelt von Eilanden. Können wir uns unterwegs nirgends mit Vorräten eindecken, wenigstens mit dem Allernötigsten?«
Angelotti war wenig angetan von diesem Vorschlag. »Wir sind mehr als achttausend Menschen. Auf diesen Inseln leben oft nur ein paar dutzend oder ein paar hundert Seelen, bettelarme Bauern und Fischer, die selbst kaum etwas zum Leben haben. Was sollten sie uns verkaufen? Ihre Ziegen und Schafe? Eine Hand voll Fische? Davon werden wir nicht satt. Auf unseren Schiffen würde weiterhin gehungert, und wir hätten auch noch die Menschen auf den Inseln auf dem Gewissen.«
»Wir müssen es versuchen.« Violantes Gesichtszüge spannten sich, als wäre sie am Ende ihrer Geduld – oder ihrer Kräfte. Seit der Eröffnung des Johanniters war es schwer, einen Unterschied zu erkennen. »Wir haben keine andere Wahl. Irgendetwas müssen wir tun.« Ihr Blick suchte Saga. »Auch eine Predigt der Magdalena würde niemanden satt machen.«
Violante wandte sich wieder Berengaria und den anderen zu. »Streut die Nachricht auf allen Schiffen. Unser nächstes Ziel bleibt Rhodos, aber wir werden unterwegs auf den Inseln Vorräte an Bord nehmen.«
»Dann sind wir nicht besser als Räuber und Piraten«, sagte Jorinde so leise, als spräche sie zu sich selbst. »Nicht besser als Achard.«
»Es ist der einzige Weg«, sagte Violante. Angelotti senkte den Blick. »So helfe uns Gott.«
Blutbad
Drei Tage später ließ sich die Entscheidung nicht weiter aufschieben. Alarmierende Botschaften trafen von allen Schiffen ein. In den Nächten, während sie in Sichtweite karger Inselküsten geankert hatten, war es mehrfach zu Versuchen gekommen, Beiboote zu stehlen und damit an Land überzusetzen; Gruppen von Mädchen hatten sich mit hungrigen Ruderknechten verbündet. Zwei Boote mit neunzehn Mädchen und acht Seeleuten waren verschwunden, alle Übrigen waren von Berengarias Kriegerinnen aufgehalten worden. Aber es war nur eine Frage der Zeit, ehe sich die vereinzelten Aufstände zu einer flottenweiten Rebellion entzünden würden.
Zu Beginn ihrer fünften Woche auf See, nachdem es erneut zu Spannungen, gar zu Waffengewalt gekommen war, ließ Violante auf allen Schiffen der Flotte verbreiten, dass sie am Abend eine Insel anlaufen würden, auf der Verpflegung für alle wartete. Niemandem, der die Hintergründe kannte, war wohl dabei; am wenigsten Kapitän Angelotti, der auf seinen Karten eine Insel hatte ausfindig machen müssen, die sich für Violantes Pläne eignete. Ein einfaches Deuten seines Zeigefingers konnte die Bewohner der Insel ihre Vorräte für Monate kosten – und damit die Grundlage ihres Überlebens.
Saga war dabei, als er widerwillig seine Entscheidung traf, und sie sah, wie schwer es ihm fiel, sich auf ein bestimmtes Eiland festzulegen. Sie fand, dass Violante zu viel von ihm verlangte. Es war grausam und womöglich folgenreicher, als die Gräfin realisieren mochte.
Seit dem Tribunal der Ordensritter sprachen Saga und sie kaum noch miteinander. Violante behielt ihre Gedanken für sich. Hatte Saga die Gräfin früher für berechenbar gehalten, so musste sie sich nun von dieser Überzeugung verabschieden. Wie alle anderen konnte auch die Magdalena nur abwarten, was weiter geschähe.
Zuletzt fügte sich Angelotti in sein Schicksal – und besiegelte damit jenes einer ahnungslosen Inselbevölkerung.
Es dämmerte bereits, als eine Kette zerklüfteter Felshöcker in Sicht kam. Sie scharten sich um einen schroffen Zwillingsgipfel, gerade hoch genug, um die anderen Kuppen zu überragen. Ruinen einer uralten Festung oder Tempelanlage erhoben sich dort oben. Auch Angelotti wusste nichts Genaues darüber, vermutete aber, das es sich um eine vorzeitliche Kultstätte handelte, die im Laufe der Jahrhunderte zur Inselfeste ausgebaut worden war. Doch auch das lag lange zurück. Heute standen die Ruinen leer, eine kantige Silhouette, die vom Sonnenuntergang in Bronzeschein getaucht wurde.
Das einzige Dorf der Insel lag unten am Wasser, weiß gekalkte Gebäude mit Dächern aus Lehmziegeln, die sich an den Fuß des Berges klammerten. Die Gassen zwischen den ärmlichen Bauten verliefen kreuz und quer, und manche waren so steil, dass sie als Treppen in den Fels gehauen waren. Am Ufer hatte sich eine Menschenmenge versammelt und blickte der Flotte entgegen. Vermutlich hatten die Inselbewohner gebetet,
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