Herrin der Lüge
dass die riesigen Schiffe vorüberzögen.
»Das alles ist keine gute Idee«, sagte Karmesin neben Saga an der Reling, während sie gemeinsam zum Inseldorf und den Menschen am Ufer hinüberblickten. Ein paar kleine Segelboote waren dort auf den steinigen Strand gezogen worden, gerade groß genug für eine Hand voll Fischer. Aus dem Schattenlabyrinth der Felshänge wehte das Meckern unsichtbarer Ziegen herüber.
Die Santa Magdalena ging vor Anker. Fahnenschwenker gaben Signale an die übrigen Galeeren weiter. Von der Insel aus musste die Flotte einen überwältigenden Anblick bieten, verteilt über ein Gebiet, das halb so groß war wie das Eiland selbst. An jeder Reling drängten sich Mädchen und Seeleute, tausende Augenpaare, die erwartungsvoll zu den kargen Felsen hinüberblickten.
Kaum lagen die Schiffe still, wurden von der Reling der Santa Magdalena drei Ruderboote zu Wasser gelassen. Violante setzte gemeinsam mit Berengaria, Kapitän Angelotti und einigen Kriegerinnen zur Insel über. Saga hatte sie begleiten wollen, allein schon um festen Grund unter den Füßen zu spüren, aber die Gräfin hatte das abgelehnt. Zu gefährlich, meinte sie, und ausnahmsweise hatte Angelotti ihr Recht gegeben. So stand Saga nun zusammen mit Karmesin, Jorinde und vielen anderen an der Reling und sah zu, wie die drei Boote das Ufer erreichten.
Es verging wohl mehr als eine Stunde, ehe sich die Delegation wieder auf den Rückweg machte. Die Sonne war untergegangen, zuletzt waren die Ruinen auf dem Gipfel im Dunkel versunken. An Bord der Schiffe brannten Öllampen. Auch im Dorf glühten Lichtpunkte. Ein kleiner Zug aus Fackelträgern hatte Violante und die anderen zurück zum Ufer begleitet und blieb abwartend dort stehen, während die drei Ruderboote zur Santa Magdalena zurückkehrten. Erst als die Gräfin an Bord ging, löste sich die Versammlung auf. Es hatte den Anschein, als zögen sich die Menschen in ihre Häuser zurück, doch Saga vermutete, dass im Dunkeln eine Reihe von Wachtposten am Wasser zurückblieb.
Angelotti sandte Ruderer zu einer Reihe weiterer Schiffe hinüber, um den Kapitänen Nachricht über den Verlauf der Verhandlungen zukommen zu lassen. Violante sah nicht besonders glücklich darüber aus, aber der Flottenkapitän wirkte entschlossen und ließ sich auf keinen offenen Streit mit ihr ein. Gut so, dachte Saga erleichtert. Nicht vor all den neugierigen Zuschauern, die sich an Deck versammelt hatten.
Violante verschwand wortlos unter Deck. Berengaria bat Saga und Karmesin, ihr in die Kapitänskajüte zu folgen; Jorinde kam uneingeladen hinterher, aber wie üblich störte sich niemand daran. Violante hatte sie während der vergangenen Wochen weitgehend ignoriert und tolerierte stillschweigend, dass sie an den meisten wichtigen Besprechungen teilnahm.
In der Kajüte unterrichtete die Gräfin sie in knappen Worten darüber, dass die Dorfbewohner sich weigerten, ihre Vorräte an die Flotte herauszugeben. Trinkwasser, natürlich, aber keinerlei Nahrung. Das Leben auf diesen Inseln sei hart, hatten der Ältestenrat und der Dorfpriester ihr erklärt, und das, was die kargen Ernten und das schlecht genährte Vieh einbrachten, war gerade genug, um die zwei Dutzend Familien des Eilands zu ernähren. Selbst einzelne Gäste wurden ungern aufgenommen. Ganz zu schweigen von achteinhalbtausend.
Berengaria wiederholte ihre Warnungen vor einer Rebellion der hungrigen Schiffsbesatzungen, und als Angelotti verspätet hinzustieß, verschärfte sich das Gespräch zu einem neuerlichen Streit. Karmesin zog sich irgendwann kopfschüttelnd zurück, gefolgt von Jorinde. Auch Saga, die keine Lust hatte, sich zwischen die Fronten eines Disputs so streitbarer Charaktere wie Violante, Angelotti und Berengaria zu stellen, verließ bald die Kajüte. Einmal mehr kletterte sie in den Ausguck auf dem Hauptmast der Santa Magdalena, schickte den Mann, der dort Ausschau hielt, hinab aufs Deck, und kauerte sich in dem engen Mastkorb zusammen.
Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie abrupt den Kopf hob, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie sich befand. Sie fragte sich, wie viel Zeit vergangen war – vielleicht nur wenige Minuten, oder aber die halbe Nacht –, und ihr Körper war steif und verkrampft von der unbequemen Haltung. Mit einem Stöhnen zog sie sich auf die Beine, schwankte ein wenig und atmete tief durch. Die Tage in der Ägäis waren brütend heiß, und selbst jetzt, bei Nacht, war die Luft hier oben kaum erfrischender
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