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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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als im stickigen Schiffsbauch der Galeere. Ein schwacher Wind wehte, aber er reichte kaum aus, den feuchtwarmen Film auf ihren Zügen zu trocknen. Saga fühlte sich unsauber und klebrig, aber das war beileibe nichts Neues nach fünf Wochen auf See. Sie badete gelegentlich im Salzwasser, genau wie alle anderen, aber das Meer und seine dunklen Tiefen waren ihr unheimlich. Selbst nach all den Tagen war ihr nicht wohl dabei, sich den Wogen anzuvertrauen.
    Sie streckte sich, gähnte und blickte zur Insel hinüber. Die Ruinen auf dem Gipfel waren mit dem Nachthimmel verschmolzen. Ein milchiger Dunst lag vor der Mondsichel und verhinderte, dass mehr als die vage Form der weißen Felsen zu erkennen war. Im Dorf brannten noch immer vereinzelte Fackeln, vor allem in der Nähe des Ufers.
    Noch etwas sah sie. Bewegungen auf dem Wasser zwischen den Schiffen und der Küste. Sie atmete scharf ein, als sie erkannte, was dort vorging.
    Ruderboote hatten sich von allen Schiffen der Flotte gelöst und glitten hinüber zur Insel. Dutzende dunkler Flecken schoben sich über das Meer auf das Ufer zu. Als sie angestrengt lauschte, hörte sie das rhythmische Eintauchen der Ruder, aber keine Stimmen. Hin und wieder ein Husten oder einen anderen Laut, nichts sonst. Die Menschen an Bord der Boote verhielten sich vollkommen still. Unmöglich zu sagen, wie viele es waren. Aber falls alle Beiboote dort unten voll bemannt waren, mussten es Hunderte sein.
    Eher Tausende.
    Sie wollte den Kloß in ihrem Hals hinunterschlucken, aber das gelang ihr nicht. Das dort unten war keine verzweifelte Aktion einiger weniger. Dies war eine ausgewachsene Invasion.
    Und, schlimmer noch, es war die Meuterei, die sie seit Tagen befürchtet hatten.
    Sie wollte sich gerade vom Mastkorb in die Wanten schwingen, als ihr die Stille auf dem Deck der Santa Magdalena auffiel. Warum hatte keine der Wächterinnen Alarm geschlagen? Es gab kein wildes Gerenne, keinen Aufruhr, keine gebrüllten Befehle. Nichts dergleichen.
    Todesstille.
    Angestrengt spähte sie in die Tiefe. Ihr schienen jetzt längst nicht mehr so viele Öllampen an Deck zu brennen wie zuvor, als sie aus der Kajüte gekommen war. Mindestens die Hälfte war erloschen. Im Schein der übrigen erkannte sie nirgends eine Menschenseele. Die sichtbaren Teile des Decks lagen verlassen da.
    Angst krallte sich um ihr Herz. Was war aus Violante, Karmesin und den anderen geworden? Hatte man sie überwältigt und nur Saga im Mastkorb übersehen? Hatten sich die Mädchen an Bord tatsächlich mit den Ruderknechten und Matrosen verbündet? Wann, zum Teufel, war die Lage derart eskaliert – und warum hatte sie es nicht bemerkt?
    Mit hämmerndem Herzschlag blickte sie hinüber zu den Körben auf den beiden anderen Masten. Sie waren verlassen. Saga versuchte sich zu erinnern, ob sie bemannt gewesen waren, als sie heraufgekommen war. Vielleicht nicht. Wenn siebzehn Schiffe gemeinsam segelten, musste nicht jeder Ausguck besetzt sein.
    Die Chancen standen gut, dass sie bislang unentdeckt geblieben war. Sie nahm all ihren Mut zusammen und machte sich an den Abstieg. Sie war unbewaffnet, natürlich, und im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen an Bord hatte sie nicht an den Kampfübungen teilgenommen. Sie fühlte sich hilflos und ausgeliefert. Ihre einzige Waffe war der Lügengeist. Beinahe kam es ihr vor, als hörte sie ihn tief in ihrem Inneren lachen.
    Du brauchst mich. Du allein kannst sie nicht aufhalten.
    Das werden wir sehen.
    Abermals das Lachen. Vielleicht nur eingebildet. Aber es machte ihr Angst, und in einer Lage wie dieser war das Letzte, was sie gebrauchen konnte, Furcht vor sich selbst.
    Sie erreichte das Deck und setzte lautlos die Füße auf. Sie war barfuß wie meist während der vergangenen Wochen. Violante hatte das nie gefallen – die Gräfin gab stets Acht, selbst bei der größten Hitze standesgemäß gekleidet zu sein –, aber das war Saga gleich gewesen. Jetzt war sie heilfroh darüber.
    Sie bewegte nur ihren Kopf, während sie sich an Deck umsah. Nur keine Regung zu viel, die irgendwen auf sie aufmerksam machen könnte. Aber es war niemand zu sehen.
    Leicht geduckt huschte sie zwischen Kisten entlang zur Tür des Achterkastells. Sie hatte den Eingang fast erreicht, als sie doch jemanden entdeckte. Drei Wächterinnen standen an der Reling beisammen und blickten den Ruderbooten nach. Sie hatten Saga noch nicht bemerkt. Offenbar stritten sie miteinander, eine hatte ein Schwert gezogen. Sie flüsterten,

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