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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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aber, als er sie erkannte. Seit ihrer Flucht von der Küste Süditaliens hatte Katervater Tiessa ins Herz geschlossen.
    Der Laderaum war voll gestopft mit Kisten, Fässern und Tongefäßen. Die meisten waren mit Seilen an den Bordwänden gesichert, aber manche waren auch offen und erlaubten den Blick auf kleine Päckchen, Schachteln und Beutel, die sich zu Dutzenden darin befanden.
    »Tiessa! Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt.«
    »Vor wem hast du Angst?«, fragte sie, während sie sich neugierig umschaute. »Du kennst doch alle hier an Bord.«
    »Vor wem! Hier unten liegen die sterblichen Überreste von ein paar hundert Menschen! Ich wäre nicht der Erste, der es mit den Geistern der Toten zu tun bekäme.«
    »Vielleicht solltest du dir besser überlegen, wessen Gebeine du da zersägst und verkaufst.«
    Katervater seufzte. »Alles eine Sache der Nachfrage. Wer legt sich wohl die ganze heilige Mathilde unters Kissen? Aber einen Finger oder ein paar Haare, vielleicht ein getrocknetes Ohrläppchen oder eine Brustwarze … Heiland, die lässt sich sogar um den Hals tragen. Schutz für unterwegs, verstehst du? In ihren Häusern werden die Leute von ihren vier Wänden geschützt, aber auf der Straße …« Er zuckte die Achseln. »Und Geschäft ist nun mal Geschäft.«
    Tiessa nickte zweifelnd.
    Der fette Reliquienhändler grinste und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Mit links packte er einen Oberschenkelknochen und setzte mit der Rechten die Säge an. »In Scheiben geschnitten bringt der hier das Fünffache von dem ein, was ich am Stück dafür bekommen würde.« Gerade wollte er zu sägen beginnen, als er die Stirn runzelte, das Werkzeug wieder weglegte und sich zu Tiessa umwandte. »Was suchst du eigentlich hier im Laderaum? Ich erinnere mich düster an eine Anweisung, dass keiner von euch –«
    »Wir sind jetzt seit mehr als zwei Wochen auf diesem Schiff, aber ich war noch nicht ein Mal hier unten.« Skeptisch schaute sie sich um. »Und das hier soll alles heilig sein?«
    »Garantiert echte, von allerhöchster Stelle zertifizierte Reliquien von den heiligsten Männern und Frauen, die du dir nur vorstellen kannst.«
    »Und wer garantiert, dass das alles echt ist?«, fragte sie zweifelnd. »Du?«
    Katervater strahlte. »Ich habe immerhin einen guten Ruf zu verlieren! Die Leute wissen das zu würdigen.«
    »Oh, sicher.« Sie machte ein paar Schritte an den Kisten und Säcken entlang. »Und hast du auch was Echtes?«
    »Wie bitte?«
    Sie sah ihn an. »Etwas, das wirklich schützt. Ich meine, ganz aufrichtig und wahrhaftig. Faun und Zinder und ich könnten es gebrauchen, weißt du.«
    Katervater räusperte sich, als er erkannte, wie ernst es ihr war. Er kratzte sich die spiegelnde Glatze und knetete dann nachdenklich das obere seiner vielen Kinne. »Schutz, nun ja … Also, Schutz ist eine schwierige Angelegenheit, weißt du?«
    »Katervater!«, rief sie vorwurfsvoll. »Das alles hier dient doch zum Schutz, hast du gesagt.«
    »Jajaja, aber … nun, eben vor vielerlei Dingen, verstehst du? Das eine hilft gegen Krankheit, das andere gegen Läuse, dieses da vielleicht gegen Dürre und jenes gegen Hochwasser.«
    »Etwas, das gegen Unglück schützt, würde schon reichen.« Sie senkte die Stimme. »Und gegen die Angst, einen furchtbaren Fehler begangen zu haben.« Einen Fehler, der Zigtausende das Leben kosten könnte, flüsterte eine Stimme in ihr und wollte gar nicht mehr verstummen: Was hast du dir dabei gedacht? Was denkst du jetzt dabei? Du kannst deine Schuld nicht ewig verdrängen. Irgendwann wird sie dich einholen, und niemand wird dir dann helfen können. Auch nicht Faun.
    »Hm …«, machte Katervater, der nichts von ihrem Gewissenszwiespalt ahnte. »Schwierig.«
    Ihre Knie fühlten sich weich an. Sie hatte das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren. Hastig tat sie das, was sie in den vergangenen Tagen zu einer gewissen Perfektion entwickelt hatte: Sie lenkte sich ab, verschloss die Augen vor der bitteren Wahrheit.
    »Du brauchst keine zu Angst haben, dass ich nicht dafür bezahlen kann.« Sie zog das Amulett, das sie auf Hoch Rialt vom Traumdeuter Elegeabal erhalten hatte, aus dem Ausschnitt ihres Lederwamses. »Ich will tauschen.«
    Er trat auf sie zu. »Zeig mal her.«
    »Weißt du, was das ist?«
    »Ein Anhänger. Sieht aus wie ein Stier. Kretisch?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Römisch. Das ist ein Mithras-Amulett.«
    »So?« Er hob eine Augenbraue. »Wirklich?«
    »Ich hab sogar den Tempel

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