Herrin der Lüge
Holzböcken, die rasch beiseite geräumt werden konnten, um Raum für Tanz oder zusätzliche Schlafplätze zu schaffen – saßen die Gäste in Reihen, manche auf Schemeln, die meisten auf groben Bänken, die recht wacklig auf Steinklötzen ruhten. Vor den Fenstern, die bis auf eines in der Seitenwand mit Läden verschlossen waren, gab es auch ein paar dicht umlagerte Einzeltische. An den Wänden verliefen gemauerte Absätze und Bretter, auf denen Krüge aus Ton und Holz aufgereiht standen. Die Luft war stickig, es roch nach abgestandenen Getränken, nach Schweiß und dem Schmutz der Straße. Während die meisten Männer tranken und sich unterhielten, gab es auch welche, die den Aufenthalt nutzten, um sich zu reinigen. Einer, nah am Eingang, zog sich gerade die Stiefel aus und schlug sie lautstark gegeneinander, damit der Schlamm abbröckelte. Ein anderer kämmte sich mit einem Knochenkamm die verfilzten Nester aus dem Haar. Ein großer Hirtenhund hatte sich vor dem kalten Kamin zusammengerollt; die Feuerstelle bildete den Mittelpunkt des Schankraums und war nach allen Seiten hin offen.
Kaum jemand nahm Notiz von den beiden Neuankömmlingen. Ihre schmutzige Kleidung ließ darauf schließen, dass sie lange auf Wanderschaft gewesen waren. Vielleicht ein Handwerksgeselle und sein Weib. Seit Faun nicht mehr die zerschlissene Gauklerkleidung trug, mit der man ihn ins Verlies geworfen hatte, erkannte man ihn nicht mehr auf Anhieb als einen vom fahrenden Volk. Das dunkle Haar, das ihm dicht und ungestüm auf dem einst kahl rasierten Schädel nachwuchs, tat ein Übriges, seine Herkunft zu verschleiern.
An Orten wie diesem wusste man ohnehin nie, woran man als Gaukler war. Der Wirt empfing einen meist mit offenen Armen, weil Musik und Spiel die Gäste länger an die Tische band. Aber in einem wild gemischten Haufen wie diesem mochte es genug argwöhnisches Volk geben, das in Spielleuten nur Diebe und Faulpelze sah.
Faun und Tiessa nahmen am Ende einer langen Tafel Platz. Zwischen ihnen und den nächsten Gästen am Tisch, einer Gruppe Waldmänner, von denen keiner mehr die volle Zahl Finger besaß, lag gerade mal eine Armlänge Platz. Faun fühlte sich unwohl, und er sah Tiessa an, dass sie noch weit weniger angetan war von diesem Ort.
»Essen«, bestellte Faun bei einer hageren Schankmagd mit sehnigen Armen, »und Bier.«
Die Frau verschwand.
»Du trinkst doch Bier?«, erkundigte er sich bei Tiessa.
»Danke der Nachfrage.«
Er beugte sich vor. »Wein ist zu teuer.«
»Und wer von uns beiden zahlt die Zeche?« Sie lächelte ihn an, und er hob abwehrend beide Handflächen.
Die Magd kam zurück und brachte Eier im Schmalz, gekochtes Federvieh von ungesunder Farbe und schlaffes Gemüse. Nichts davon schien auch nur halbwegs genießbar, aber sie verschlangen alles bis zum letzten Bissen. Es mochte ihren Gaumen keine Freude bereiten, aber ihre Mägen dankten es ihnen. Auf der Straße hatten sie sich von Beeren, Brot und Hirsebrei ernährt, jetzt war ihnen jede Abwechslung willkommen. Im Gegensatz zum Essen war das Bier ganz vorzüglich, und Faun bestellte sich einen zweiten Krug, als er spürte, dass ein Teil seiner Anspannung von ihm abfiel. Tiessa trank ihren bis zur Hälfte aus und nutzte den Krug danach vor allem zum Festhalten. Sie warf den schmuddeligen Gestalten neben ihr immer wieder argwöhnische Blicke zu, während Faun allmählich begann, sich in so fröhlicher Gesellschaft heimisch zu fühlen.
»Was hältst du davon, wenn wir uns heute ein Bett leisten?«, fragte er.
»Wir haben nicht viel Geld übrig.«
»Zur Abwechslung nicht von hundert Mücken zerstochen zu werden wäre schön. Außerdem müsste ich nicht mit einem offenen Auge schlafen, um nach deinen Verfolgern Ausschau zu halten.«
»Du?« Sie stieß ein helles Lachen aus. »Du schläfst doch als Erster von uns beiden ein.«
»Aber ich habe einen leichten Schlaf.«
Kopfschüttelnd beugte sie sich vor und nahm noch einen weiteren Schluck vom Bier.
»Du hast Schaum an der Nase«, sagte er.
Sie wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Bier ist nicht so schlecht, wie ich dachte. Zu Hause hat man mir immer –« Sie brach ab, und der Anflug guter Laune verschwand schlagartig von ihren Zügen.
Er wartete einen Augenblick, doch als sie nicht fortfuhr, sagte er: »Du vermisst jemanden.«
»Meinen Vater.«
»Warum gehst du dann nicht zu ihm zurück? Hat er dir diese Männer hinterhergeschickt?«
»Mein Vater ist tot.«
»Das tut mir
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