Herrin des Blutes - Thriller
Haus war ziemlich heruntergekommen und an allen Seiten von großen Waldflächen umgeben. Seine Abgeschiedenheit beschwor Erinnerungen an ein anderes Anwesen hoch oben in den Bergen im Osten Tennessees herauf und trug ein Übriges zu Chads Gefühl eines Déjà-vu bei. Er hatte das alles schon einmal durchgemacht. Und doch war diesmal alles anders. Er empfand nicht dasselbe Gefühl der Gerechtigkeit und Zielstrebigkeit. Diesmal war er nichts weiter als eine hilflose Marionette, die mitgeschleift wurde.
»Ich muss dich noch etwas fragen, bevor wir das hier tun«, wandte er sich an Bai. »Mir ist klar, dass du es mir vermutlich nicht verraten wirst, aber was soll’s? Was zur Hölle wollt ihr verdammten Ordenstypen eigentlich erreichen?«
Ihre Stirn legte sich in leichte Falten. »Ich verstehe deine Frage nicht.«
Chad konnte sich gerade noch davon abhalten, die Augen zu verdrehen. »Welche Motivation verfolgt euer Orden? Welchem Zweck dient eure Organisation? Warum betreibt ihr einen derartigen Aufwand für einen simplen Racheakt?«
Bai grinste höhnisch. »Das würdest du niemals verstehen. Das übersteigt die geistigen Fähigkeiten so niederer Wesen, wie ihr Menschen es seid. Alles, was du wissen musst, ist, dass wir eine uralte Gemeinschaft sind. Wir überdauern bereits seit Jahrhunderten durch die ritualisierten Opfer unschuldiger Leben. Und das wichtigste Prinzip des Kodex, der uns leitet, ist die unerschütterliche Loyalität gegenüber dem Orden. Wenn einer von uns aus dem Leben gerissen wird, empfinden wir das als Angriff auf unser Kollektiv. Keine Rache zu üben, wie du es nennst, ist daher keine Option.«
»Warte mal … niedere Wesen?«
»Unrein. Unsauber.« Bai lächelte. »Und dumm. Minderwertig.«
Chad dachte einen Augenblick lang darüber nach. Er war inzwischen so sehr an Bais Beleidigungen gewöhnt, dass ihn auch diese Bemerkung nicht aus der Ruhe brachte. Etwas anderes in ihren Worten löste jedoch eine Assoziation aus, die er zunächst nicht zuordnen konnte. Er überlegte noch einen Moment länger. Dann wusste er es und riss die Augen auf. »Der Meister hat dasselbe getan. Gehörte er ebenfalls eurem Orden an?«
Bai schüttelte den Kopf, während sie das Lenkrad des Minivans herumriss und hinter dem Paketlaster auf den Feldweg einbog. »Nein. Aber er stand in enger Verbindung zu uns, da wir oft dieselben Rituale praktizierten. So hat auch Evelyn Wickman eine Anstellung bei ihm gefunden.«
»Aha.« Chad lehnte sich in seinem Sitz zurück und spürte ein Gefühl der Erkenntnis. Dass ihm nach all den Jahren dieses kleine Puzzleteil zugeschoben wurde, spielte im größeren Zusammenhang zwar keine Rolle. Schließlich war Miss Wickman tot und damit kein Thema mehr. Und doch verschaffte ihm das Wissen eine gewisse Befriedigung.
Sie hielt nicht lange an. Der Lkw erreichte das Ende der Einfahrt und blieb stehen. Seine Bremslichter flackerten kurz auf und erloschen. Bai brachte den Minivan ein paar Meter dahinter zum Stehen und schaltete den Motor aus.
Chad spürte, wie sich ein Knoten in seinem Hals bildete und sein Puls raste.
Das ist es also, dachte er. Das Ende.
Aber nein, das stimmte nicht ganz. Das wahre Ende seiner Reise lag jenseits der morsch aussehenden Holztür auf der anderen Seite der wackeligen Veranda. Chad spannte sich an und Angst machte sich in ihm breit. Bald würde es losgehen. Der Lärm. Die Explosionen und Schüsse. Die Schreie und der Tod. Er war nicht bereit dafür. Konnte nie wirklich bereit dafür sein. Aber er konnte es nicht ändern.
Er zuckte zusammen, als Bai in seinen Nacken griff. Im nächsten Moment wich der Druck von seiner Kehle. Die Asiatin warf das Halsband und die Leine auf den Boden und erklärte: »Das ist deine Chance. Kämpfe und kehre als Sieger zurück. Dann gehört dir die Freiheit. Es liegt allein an dir.«
Sie hielt seinen Blick einen intensiven Augenblick lang fest, und er verspürte wieder das vertraute Kribbeln hinter den Augen, als röntge sie sein Gehirn und kenne jeden seiner Gedanken. Dann war die Musterung beendet, und sie wandte sich von ihm ab, öffnete die Fahrertür und stieg aus.
Chad gönnte sich einen letzten Moment, um sich zu sammeln, und kletterte dann ebenfalls aus dem Wagen.
Die Rückseite des Paketlasters stand offen. Das Waffenarsenal wurde in raschem Tempo entladen. Ein Mann in Tarnkleidung drückte ihm eine M16 inklusive Munition in die Hände. Chad begann wie gelähmt, die Waffe zu laden, während er zusah, wie einige
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