Herrin des Blutes - Thriller
aussehen mochte. Lebte er voll und ganz in der Gegenwart, oder verbrachte er eine Menge Zeit damit, über den verlorenen Ruhm seiner Vergangenheit nachzudenken? Bedauerte er es jemals, Anfang der 1970er einen so eigenartigen Weg eingeschlagen zu haben? Sie hoffte, eines Tages über all das mit ihm sprechen zu können. Sie nahm an, dass er ihr einiges beibringen konnte, was die Auseinandersetzung mit Entscheidungen betraf, die man abgrundtief bedauerte.
Auch Allyson und Chad erklärten den Abend für beendet, erhoben sich und schlenderten Hand in Hand in Richtung ihrer Behausung davon.
Die Flasche Jim Beam rief nach ihm. Jim ließ die Zigaretten und die Mundharmonika auf den Tisch fallen und griff danach. Er betrachtete die braune Flüssigkeit im Inneren. Anders als in seiner Jugend besaß das Zeug nicht mehr die vollständige Kontrolle über ihn – ansonsten wäre er längst tot – aber Alkohol spielte nach wie vor eine entscheidende Rolle in seinem Leben. Er hatte seine tägliche Dosis auf einen Bruchteil dessen reduziert, was er früher gebechert hatte – sowohl um seinen Gesundheitszustand zu verbessern, als auch um sich für den Kampf vorzubereiten, von dem er wusste, dass er sich am Horizont abzeichnete. Doch der Alkohol, diese süße Versuchung, lauerte ständig im Hintergrund. Er trank den Tag über in gemäßigtem Tempo und passte auf, dass er zu keinem Zeitpunkt zu benebelt war. Nachts gab er der Versuchung eher nach, aber selbst dann war er sich stets seiner Verantwortung bewusst.
Er war ein Anführer. Und, fast noch wichtiger, ein Symbol des Triumphes für die Überlebenden von Unten. Verständlich, dass sie Inspiration und Orientierung bei ihm suchten. Doch er fühlte sich nach wie vor ein wenig unwohl in dieser Rolle. In ihm glomm nach wie vor ein winziger Funke des wilden Freigeists, der ihn seinerzeit zu extremem, rücksichtslosem Verhalten getrieben hatte. Dieser Teil von ihm hätte am liebsten die komplette Flasche Jim Beam vernichtet, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.
Er drehte den Verschluss von der Flasche und setzte sie an seine Lippen. Der Alkohol füllte seinen Mund und er genoss den süßlichen Geschmack einen Augenblick lang, bevor er ihn hinunterschluckte. Ein kleiner, wohliger Schauer lief durch seinen Körper. Er trank noch ein bisschen, schraubte den Deckel wieder auf und stellte die Pulle zurück auf den Tisch.
Plötzlich vernahm er auf der anderen Seite des Raums ein leises Geräusch und drehte sich um. Niemand da. Aber er hatte sie gehört, da war er sich ganz sicher. Die Stimme einer Frau. Er seufzte. Gelegentlich hörte er Stimmen, wenn er allein war. Manchmal verstand er sogar einzelne Worte. Ganz selten hörte er sie so deutlich, dass er sie erkannte. Doch sie konnte unmöglich hier sein, zumindest nicht in physischer Gestalt. Er wusste, dass diese Menschen aus seiner fernen Vergangenheit längst tot waren. Geister, von denen er annahm, dass er sie bis an sein Lebensende in sich tragen würde.
Doch diesmal war es anders. Er war sich nicht sicher, wieso, aber er konnte es so deutlich spüren, dass es ihn bis ins Mark erschütterte. Ein leises Kitzeln der Angst, das am Ende seiner Wirbelsäule seinen Anfang nahm und langsam daran emporkroch. Instinktiv angelte er nach dem Jim Beam. Ungeduldig schleuderte er den Deckel auf den Tisch. Das hochprozentige Gesöff beruhigte ihn und vertrieb den kalten Schauer. Er hielt die Flasche am Hals fest, während er immer wieder in dem kleinen Zimmer auf und ab wanderte. Seine Paranoia trieb ihn dazu, es gründlich abzusuchen, auch wenn ein Eindringling überhaupt keine Möglichkeit gehabt hätte, sich irgendwo zu verstecken.
Es sei denn …
Er fiel auf die Knie und stöhnte, als seine alten Gelenke knackten. Er hob die Bettdecke an einem Zipfel hoch und lugte unter das Gestell. Es war natürlich niemand da, von ein paar Krabbeltierchen und seinen persönlichen Habseligkeiten einmal abgesehen. Der ramponierte Rucksack, den er bereits auf seinen Reisen durch Europa und Asien in den 70ern dabeigehabt hatte. Zwei Kisten, eine kleine und eine etwas größere, in denen er einige Lieblingsbücher aufbewahrte. Er seufzte und rappelte sich wieder auf, ging um das Bett herum und setzte sich auf die Matratze, bevor er sich einen weiteren Schluck Bourbon genehmigte. Dann fasste er unter das Bett und holte die kleinere der beiden Kisten hervor: eine alte Zigarrenschachtel, die mit einem Stück Seil verschlossen war. Er löste den Knoten und
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