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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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das Besprechungszimmer verlassen
hatte. Merzig blieb stehen, bis sich der Pulk in Bewegung setzte, und fand sich
plötzlich neben Wildgruber wieder.
    »Ich würde gerne ein paar Worte mit Ihnen reden«, sagte der junge Oberst.
Seine Stimme, eben noch kasernenhofartig laut, hatte sich zu einem Flüstern
gesenkt.
    »Wegen der Namen?«
    »Ja. Es gibt da einen Umstand, über den Sie informiert sein sollten.«
    Merzig drängte sich durch die Tür nach draußen in den Flur. Der
Spannteppich schluckte die Schritte. Die meisten liefen ins Treppenhaus, einige
der älteren Semester warteten auf den Fahrstuhl. Merzig schloss sich ihnen an.
    »Ich muss Sie doch nicht erinnern, dass wir konspirativ sind«, sagte er.
»Die Umstände sind eindeutig. Mehr will und darf ich nicht wissen.«
    Wildgruber blieb stehen. Merzig, der nicht unhöflich sein wollte, drehte
sich zu ihm um.
    »Dieser Fall liegt anders.« Der junge Mann sah an Merzig vorbei und
versicherte sich, dass niemand etwas von ihrem Gespräch mitbekam. »Mögen Sie
Thüringer Rostbratwürste?«
     
    »Ja«, sagte Kaiserley. »So ähnlich habe ich mir die Runden immer vorgestellt.«
    Merzig schien sich hinter seinem Pfeifenrauch zu verbarrikadieren. Judith
konnte nicht erkennen, ob die Erinnerung an jenen Tag ihn berührte, und wenn
ja, in welcher Weise.
    »Sie haben also die Haftbefehle gegen meine Eltern unterschrieben?«
    »Das war meine Aufgabe. Sie wurden beschuldigt, umfangreiche
Vorbereitungen zum ungesetzlichen Verlassen der Deutschen Demokratischen
Republik unter Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen getroffen zu haben. Dazu
kam der Vorwurf von Landes- und Hochverrat. Darauf stand damals noch die
Todesstrafe.«
    Judith spürte, wie sie wieder zu zittern begann. Dieses Mal waren der
Auslöser nicht die Entzugserscheinungen, sondern das Ausmaß der Gefahr, in die
sich ihre Eltern begeben hatten.
    »Sie wurde erst 1987 abgeschafft«, sagte Kaiserley. »Der letzte Exekutierte war Werner Teske,
ein Stasi-Hauptmann, der in den Westen wollte.«
    »Was haben Sie dann unternommen?«, fragte Judith. Es war so fremd und
unwirklich in diesem spießigen Wohnzimmer mit den wunderschönen Fischen. Als ob
sie einen Automaten mit Münzen füttern würde, und der spuckte im Gegenzug die
Informationen aus.
    »Wir ließen sie in dem Glauben, niemand hätte etwas von ihren
Vorbereitungen für eine Nichtrückkehr bemerkt. Wir wussten, dass es zu einer
direkten Kontaktaufnahme erst in Sassnitz kommen würde. Deshalb mussten wir
unter allen Umständen verhindern, dass die Landesverräter den Waggon wechseln
konnten.«
    »Nennen Sie sie nicht so.«
    Merzig hob die Augenbrauen. »Wie hätten Sie sie im umgekehrten Fall
genannt? Wenn sie Bürger der BRD gewesen wären, die das gesamte
Kundschafternetz des BND mit in die DDR genommen hätten?«
    »Es gab keine Agenten des BND in der DDR«, konterte Kaiserley.
    »Eine interessante, aber keinesfalls zutreffende Behauptung. Und einer der
Punkte, über die wir uns zu gegebener Zeit gerne ausführlicher unterhalten
können.« Merzig griff nach einem kleinen, silbernen Instrument und stocherte
damit in seiner Pfeife herum. »Also gut, nennen wir sie Ihre Eltern, Frau...
Kepler.«
    Judith nickte, aber es fiel ihr schwer, den Anschein von Ruhe zu wahren.
    »Die Kollegen in Schwerin übernahmen den Einsatz. Ich bin also mit allem,
was ich Ihnen sagen kann, auf meine Erinnerung an eine Aktenkopie angewiesen,
die ich später von der Außenstelle am Demmlerplatz erhielt.«
    »Wo ist das Original?«, fragte Judith.
    »Nicht mehr vorhanden.«
    »Geschreddert?«
    »Alles. Herr Kaiserley wird Ihnen das bestätigen können.«
    Kaiserley nickte. »Und unser gemeinsamer Freund Dr. Matthes auch.
Allerdings gibt es noch jede Menge Plastiksäcke, die rekonstruiert werden
können.«
    »Viel Spaß«, erwiderte Merzig trocken. »Jedem Land die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme,
die es verdient.«
    Judith wäre am liebsten aufgesprungen und hätte diesem arroganten
Gartenzwerg seine Pfeife aus dem Gesicht geschlagen. Er schien es zu genießen,
noch einmal all seine Macht ausspielen zu können. Ein gestürzter König, der
hoch erhobenen Hauptes durch die Schatzkammern seiner Erinnerung spazierte.
    »Was geschah in Sassnitz?«
    Merzig sah hinüber zum Aquarium. Zwei Buntbarsche umkreisten einander.
Ihre eleganten Bewegungen sahen aus wie die überirdisch schöne Choreographie
eines Balletts.
    »Ihre Mutter wollte mit Ihnen in den Kurswagen nach Malmö. In dem Moment
wären

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