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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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herauspickte. Er kannte jeden
einzelnen von ihnen mit Namen. Er hatte einen Ton am Leib, für den man ihn
sogar beim Bund mit sofortiger Wirkung suspendiert hätte. Er führte sein
Unternehmen wie ein Berserker, aber er schuftete auch so. Er tauchte
unerwartet überall auf, kontrollierte, fluchte, beschimpfte, wütete, doch er
war auch derjenige, der mehr als einen aus seiner Truppe im letzten Moment aus
dem Abschiebeknast wieder herausgeholt hatte. Er hatte abgelaufene Duldungen
auf Wegen, die man nur sehr verharmlosend als »kleinen Dienstweg« bezeichnen
konnte, verlängern lassen (nicht jeder Umzug, nicht jede kleine Dienstleistung
in den Beamtenhäuschen am Stadtrand musste schließlich über die Bücher
laufen), und es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass er auch schon Kautionen
gestellt und persönliche Bürgschaften übernommen hatte.
    Dombrowski
selbst sagte nichts dazu. Vielleicht würde er sich äußern, wenn man ihn fragen
würde. Aber man redete nicht mit Dombrowski, höchstens über ihn. Sein krauses,
schulterlanges Haar, ergraut und stark gelichtet, trug er an hohen Feiertagen
offen, sonst mit einem Gummi gebändigt. Er hegte seinen Ruf als ehemaliger
68er, der für den langen Marsch durch die Institutionen den anderen die
Umzugskisten in immer höher gelegene, immer elegantere Büros nachgetragen
hatte und nun die Hintertreppen der Mächtigen wischte. Vielleicht beseitigte er
zudem ganz anderen Dreck, aber das war auch nur ein Gerücht. Er zahlte den
Festangestellten zwölf Monatsgehälter, schrammte den Mindestlohn um wenige
Cent, legte dann aber in der Attitüde vorrevolutionärer russischer Lehnsherren
einmal im Jahr zu Weihnachten eine Gratifikation obendrauf. Vorausgesetzt, man
hatte es geschafft, sich noch mit vierzig Grad Fieber zur Arbeit zu schleppen
und Überstunden nicht abzurechnen, weil sie Teil der beglückenden Erfahrung
waren, gebraucht zu werden. Dinge wurden bei ihm nicht angeschafft, weil sie
modern waren, sondern weil ihre Vorgänger schlicht auseinanderfielen. Die
Büromöbel hatte er günstig ersteigert, als die Inneneinrichtung des
DDR-Außenhandelsministeriums verramscht worden war. Auf seinem Stuhl, der unter
seinem massigen Körper ächzte, sollte angeblich Schalck-Golodkowski persönlich
gesessen haben. Der Computermonitor auf dem abgeschabten Schreibtisch war reif
fürs Museum. Als er ihn in Judiths Richtung drehte, weil sie ihm natürlich
gefolgt war und ihn anhören musste, bevor sie sein zweifellos unverschämtes
Ansinnen ablehnen würde, quietschte das Gelenk erbarmungswürdig.
    »Hier.
Schau dir den Dienstplan an. Es ist keiner da.«
    »Dann ruf
jemanden an.«
    »Freitagabend.
Jeder, der noch ganz bei Verstand ist, geht nicht ans Telefon.«
    »Für wie
blöd hältst du mich dann?«
    Dombrowski
schenkte ihr ein Lächeln, das jedem anderen Angst gemacht hätte. Es war so
breit wie das vom Wolf, der gerade die Großmutter gefressen hatte. Sie blieb
stehen. Reine Neugierde, wie weit er noch gehen würde. Vielleicht auch mehr.
Ihre Unfähigkeit, konsequent Grenzen zu setzen.
    »Judith,
meine Judith.«
    Nein. Sie
begann vorsichtshalber, das Wort zu visualisieren. Ein »N«, zackig und klar,
gefolgt von einem freundlichen, aber bestimmten »E«, dann ein »I« wie ein
Ausrufezeichen und noch einmal ein »N« wie ein Kopfschütteln. Nein.
    »Ein
Kaltsteher. Du weißt, was das heißt. Ich kann da nicht jeden hinschicken.«
    Der
Begriff kam eigentlich aus der Heizölszene. Leute, bei denen mitten im Winter
die Heizung ausfiel, weil das Öl ausgegangen war. Notfälle, die rasches
Liefern zu exorbitanten Aufschlägen erforderten. Warum dieses Wort sich
ausgerechnet bei Dombrowski eingenistet hatte, wusste niemand. Vielleicht, weil
seine Kaltsteher auch alles unbewohnbar machten. Weil man Spezialisten
brauchte, die das Hirn, das Herz und den Geruchssinn in dem Moment
abschalteten, in dem sie mit etwas konfrontiert wurden, das schlimmer war, als
die eigene Mutter sechs Wochen lang verwesen zu lassen. Dafür gab es nur wenige
Spezialisten. Judith war einer von ihnen.
    »Ich hab
niemand anderen. Also stell dich nicht so an. Kastner ist im Urlaub. Josef ist
mit Kolonne bei der IHK.«
    »Und
Dieter?«
    »Dieter
ist krank.«
    Er wollte
ihr den Wagenschlüssel reichen. Judith verschränkte die Arme.
    »Vielleicht
habe ich ja noch was vor?«
    Ein dark spot in
Brandenburg war zwar nicht das, was man sich im landläufigen Sinne unter einem
Date vorstellte. Aber es war immerhin ein

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