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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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heruntergekurbelt haben musste, und auf dem etwas
gealterten, aber immer noch markanten Gesicht von Quirin Kaiserley erschien ein
spöttisches Lächeln. In der rechten Hand hielt er vier bunte Ausweise wie Asse
in einem Kartenspiel, das er im Begriff war zu gewinnen.
    Teetee
blieb stehen und starrte auf die Plastikkärtchen. Hatte Kellermann nicht
behauptet, er hätte sie? Nicht wörtlich natürlich. Aber in dem Sinne, dass es
in Kellermanns Hand lag, ob die Sache ein Disziplinarverfahren nach sich zog
oder nicht.
    »Steig
ein.«
    Teetee sah
sich um. Niemand in der Nähe. Die Sache begann ihn zu interessieren.
     
    Judith
Kepler stand vor dem Eingang zu einem Heim der Deutschen Seniorenfürsorge
Sassnitz. Sie trug ein gepunktetes Sommerkleid aus Sweatshirtstoff mit Ärmeln,
die über die Ellenbogen reichten. Ihre Haare fielen offen auf ihre Schultern.
    Dombrowski
hätte sie noch nicht einmal aus der Nähe erkannt. Sie fühlte sich fremd in der
eigenen Haut.
    Die
Zufahrt zum Haus befand sich auf der meerabgewandten Seite und war so gut
versteckt, dass sich unwillkürlich der Verdacht aufdrängte, sie solle gar nicht
gefunden werden. Ein kleiner Waldweg zweigte von der Straße der Jugend ab und
führte nach einigen Biegungen schließlich zu einem neuen, weiß gestrichenen
Holzzaun. Das Haus lag im Schatten der Bäume. Obwohl an diesen langen
Sommerabenden der Himmel immer noch hell war, brannte in allen Fenstern Licht.
Hier oben, versteckt vor neugierigen Blicken, öffnete sich ein Grundstück, das
fast so groß wie das Fabrikgelände war, mit Rasen, Blumeninseln und
verlassenen Liegestühlen. Ein Kiesweg führte an einem Springbrunnen vorbei zum
Eingang. Die Pumpe war abgeschaltet, Seerosen und Schilf spiegelten sich in
der Wasseroberfläche. Aus Stein gemeißelte Fabelwesen mit gespitzten Mäulern,
Nymphen und Fische verzierten die Brüstung. Aus ihren Mündern sprudelte
tagsüber wohl das Wasser in verspielten Bögen in die Höhe.
    Der
Eindruck vom Wohlstand vergangener Tage zerriss, als Judith durch die Eingangstür
in eine gewaltige Halle trat. Spiegelblankes Linoleum, neue Treppenläufe und
eine hässliche Neonlampe zerstörten den Rest von Jahrhundertwendecharme, den
das Gebäude gehabt haben musste. Links und rechts gingen hohe Flure ab. Vor
einer Tür stand ein Pflegebett, es war leer.
    Eine Frau
in weißer Tracht verließ mit einem Tablett in den Händen ein Zimmer. Sie
entdeckte den Eindringling und kam in schnellen Schritten auf Judith zu. Ein
kleines Schild auf ihrer Brust identifizierte sie als Schwester Reinhild.
    »Es tut
mir leid, aber die Besuchszeit ist schon vorbei.«
    Sie hatte
die alterslose Ausstrahlung einer Florence Nightingale und ein auf freundlich
getrimmtes Auftreten. Unter der Oberfläche wartete auf Abruf stahlharte
Autorität. Judith kannte diesen Typ Frau. Sie hatte sich vorbereitet. Sie
dachte an den Satz, den sie auf dem Weg mehrere Male laut vor sich hin gesagt
hatte, aber er kam ihr dadurch nicht leichter über die Lippen. Ihr Herz
hämmerte in der Brust. Sie hatte nur eine Chance und nur einen Namen. Sie
betrat schwankenden Boden. Die ersten Worte, die sie sagte, waren
entscheidend. Entweder sie trugen, oder sie versank.
    »Mein Name
ist Judith Kepler. Ich möchte zu Martha Jonas.«
    »Martha
Jonas?«
    Schwester
Reinhild musste die minimale Unsicherheit in Judiths Stimme bemerkt haben. Sie
runzelte die Stirn und hatte etwas Ablehnendes bereits auf der Zunge, als
Judith ihren Fehler erkannte.
    »Wenn Sie
es möglich machen könnten. Bitte.« Natürlich. Bitte, bitte, bitte. Wie konnte
sie das vergessen. »Ich weiß, ich komme ungelegen. Aber es ist sehr wichtig.«
    Und sag,
dass es sie noch gibt. Dass sie lebt und keine Unbekannte ist. Sie war die
Einzige, die auch immer zum Mond hochgesehen hat. Nachts, auf ihren
Rundgängen, und manchmal hat sie mich zugedeckt. Ich hätte schon viel früher
nach ihr suchen sollen. Aber wer sucht schon nach einer Frau, die Teil des Systems
war, das einen zerbrochen hat.
    »Kommen
Sie morgen früh ab neun wieder.«
    Für
Schwester Reinhild war das Gespräch beendet. Sie ging zu einem Servierwagen,
der neben dem Eingang stand. Dort stellte sie das Tablett ab. Judith folgte
ihr. Ein Käsebrot, unberührt, ein halbleeres Schälchen mit Kompott, eine Kanne
Tee.
    »Das ist
zu spät. Ich muss heute Abend noch die Fähre nach Trelleborg erreichen. Es
dauert nicht lange. Ich habe eine Nachricht für sie.«
    »Unsere
Gäste haben einen Tagesablauf.«
    »Ich

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