Herrmann, Elisabeth
gekannt hatte. Aus der kräftigen Erzieherin mit dem immer
etwas geröteten Gesicht war ein Skelett geworden, die Haut eine viel zu große
Hülle für den zerbrechlichen, von Alter und Krankheit gezeichneten Körper.
Sie hatte
die Augen geschlossen. Vielleicht schlief sie, vielleicht dämmerte sie auch
nur durch die Stunden. Judith setzte sich auf die Bettkante und berührte Martha
Jonas' Hand. Sie war heiß, als ob sie Fieber hätte.
»Frau
Jonas?«
Ein Zucken
ging über die eingefallenen Wangen. Sie musste ein Gebiss getragen haben, denn
die leicht geöffneten Lippen spannten sich um die zahnlosen Kieferknochen und
bildeten ein schwarzes Loch anstelle des Mundes. Judith betrachtete das fremde
Gesicht. Sie suchte den Hass, aber sie fühlte nur eine verwirrende Mischung
aus Angst, Wut und plötzlichem Mitgefühl. Martha Jonas war die Einzige gewesen,
die ab und zu so etwas wie Fürsorge gezeigt hatte. Nie genug, um sich wirklich
für ihre Schützlinge einzusetzen. Aber ein verstohlenes Streicheln über den
Kopf, ein Teller Brote, nachts schnell und heimlich in den Keller gebracht, ein
Schlaflied, wenn man weinte und nichts diesen Schmerz im Inneren betäuben
konnte. Judith rührte dieses unerwartete Wiedersehen. Sie drückte die Hand der
alten Frau. »Frau Jonas?«
Die Lider
zuckten. Der Mund bewegte sich, als wollte sie etwas sagen. Judith entdeckte
ein Glas Wasser auf dem Nachttisch. Sie hob es der Kranken an den Mund.
»Frau
Jonas, sind Sie wach? Ich muss mit Ihnen reden.«
Die
ehemalige Erzieherin schluckte und öffnete die Augen. Ihr trüber Blick wanderte
über Judiths Gesicht. Ängstlich und unsicher zunächst, doch dann auf einmal
flackerte etwas auf. Sie hob die Hand, ließ sie aber auf halbem Weg zu Judiths
Gesicht entkräftet sinken.
»Du?«,
flüsterte sie.
Der
Schmerz schoss in Judiths Herz und schleuderte sie zurück in den Körper eines
Kindes. Eine abgebrochene Berührung, ein einziges Wort genügte, und sie wurde
blitzartig in die Vergangenheit katapultiert. Es war Nacht, und sie stand in
einem Flur, und eine Frau beugte sich über sie und fragte sie nach ihrem Namen.
»Erkennen
Sie mich wieder? Ich bin ...«
»Christel.«
Das schwarze Loch in Martha Jonas' Gesicht wurde zu einem schmalen Strich. Sie
lächelte. »Christel Sonnenberg. «
»Was? Was
sagen Sie da?«
Der Blick
der alten Frau wanderte über ihre Haare und ihr Gesicht. Schließlich blieb die
heiße Hand auf ihrer liegen. »Bist du auch immer brav gewesen?«
Schwester
Reinhild wartete darauf, dass der Computer die Liste mit den Namen fand. Sie
war so lang und umfangreich, dass sie die Suchfunktion zu Hilfe zog. Kepler,
Judith. Die Zahlen- und Buchstabenkombination in der Zeile hinter dem Eintrag
verriet ihr, was zu tun war. Sie hob den Telefonhörer ab, wählte eine
dreistellige Nummer und wartete, bis sich am anderen Ende die wohlvertraute
Stimme meldete.
»Judith
Kepler ist hier.«
Sie
lauschte auf das, was die Stimme zu ihr sagte, nickte und legte auf.
Schwester
Reinhild war zweiundvierzig Jahre alt. Sie wusste wenig von den Schicksalen
derer, die ihr anvertraut waren. Die einen alt, die anderen krank, die meisten
beides. In anderen Heimen konnte es passieren, dass Unruhe aufkam, wenn
bekannt wurde, für wen der nette Nachbar gearbeitet hatte. Dies hier war ein
privat geführtes Haus. Die Gesellschaft für solidarische und
humanitäre Unterstützung, GSH e.V., war der heimliche Orden
der Kundschafter des Friedens und all jener, für die Solidarität und
Miteinander keine Fremdworte waren. Sie hatte nur das gleiche Problem wie alle
Organisationen, die sich für einen unvoreingenommenen Umgang mit der
DDR-Vergangenheit einsetzten: Ihre Mitglieder wurden nicht jünger. Demenz war
eine gefährliche Krankheit. Man vergaß. Erst die Kleinigkeiten, dann die
wichtigeren Dinge. Und irgendwann, dass man einmal eine Schweigeverpflichtung
unterschrieben hatte.
Auch
Schwester Reinhild hatte das getan. In jenen unruhigen Zeiten vor der Wende,
als nicht nur ein Land, sondern ein ganzes System irreparable Schäden erlitt.
Sie hatte sich bewusst und mit tiefer Überzeugung zu diesem Schritt
entschlossen. Als Reisefreiheit und Bananen auf der Rangliste der Wünsche ganz
oben standen, hatten sie und die letzten Aufrechten erkannt, dass Länder und
Systeme vergehen konnten, die Treue nicht. Ihre Schützlinge fanden hier einen
Platz, wo sie sicher waren vor Verfolgung und Häme und unter ihresgleichen. Man
munkelte hinter vorgehaltener
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