Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Aber was ist eine Dampfmaschine ohne Ventil, und ein Motor ohne Bremse? Wer setzt denen ein Denkmal, die dafür gesorgt haben, daß die Pferdestärken, heute heißen sie Kilowatt, keinen allzu großen Schaden anrichten können?« Die Verminderung des Drucks und der Geschwindigkeit, sagte er, sei eine herrliche Aufgabe.
105 Damit nicht genug, wandte Z. sich dem Energiehunger in der Wissenschaft zu: »Als Rutherford 1911 den Atomkern entdeckte, kostete sein Experiment siebzig Pfund Sterling. Als Otto Hahn eine Generation später das Uranatom spaltete, hatte seine Apparatur auf einem Labortisch Platz. Für das erste Zyklotron, das Lawrence und Livingstone in Berkeley testeten, soll ein Durchmesser von zehn Zoll genügt haben.«
Das CERN -Gelände bei Genf hingegen erstrecke sich über 600 Hektar. Der Large Hadron Collider, der dort 2008 in Betrieb ging, habe, wie es heißt, bisher ungefähr vier Milliarden Euro gekostet und verbrauche alljährlich 800 Gigawattstunden Strom. Man hoffe, seine Energie auf 14 000 000 000 000 Elektronenvolt zu steigern.
106 »Ein Wirtschaftswachstum, das mit Big Science mithalten könnte, gibt es nirgendwo«, schloß Z. Es verblüffe ihn, daß unsere Zivilisation für solche Unternehmungen aufkomme, ohne einen Gedanken an ihre Rendite zu verschwenden. Er sehe dasmit Genugtuung.
107 Nicht alle Geheimnisse vertrügen es allerdings, gelüftet zu werden, warnte uns Z. Übertriebene Neugier könne eher zu Enttäuschungen als zu Triumphen führen. »Picasso soll gesagt haben, er lese nicht Englisch und ein Buch in dieser Sprache sei für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Auch wenn er etwas über die Physik von Einstein lese, kapiere er kein Sterbenswort. Und doch verstehe er dabei oft etwas anderes, das ihm von Nutzen sei.«
108 Einmal sprach Z. von Montesquieus Persischen Briefen. Ein Reisender aus Isfahan, der nach Paris kommt, stellt dort zu seiner Überraschung fest, daß der König von Frankreich, ebenso wie der Papst, ein Taschenspieler ist; dieser wolle den Leuten weismachen, drei sei eines und eines drei, während
jener versichere, Papier sei Gold. Beiden werde in Europa gerne geglaubt. »Das«, sagte Z., »ist heute nur noch selten der Fall.«
109 »Die meisten von uns sind Sozialautomaten«, verkündete Z. Das sei kein Wunder und lasse sich schwer vermeiden. Es gebe allerdings Ausnahmen. Er kenne einen Menschen, der sich weigere, eine Tastatur zu bedienen. Öffentliche Verkehrsmittel meide er, weil er unfähig sei, mit den Automaten fertig zu werden, aus denen man Fahrkarten ziehen müsse. Auch zum Gebrauch eines Computers sei er außerstande, und das Internet kenne er nur vom Hörensagen.
Auf die Schwierigkeiten angesprochen, die ein solches Verhalten mit sich bringe, habe er entgegnet, Tätigkeiten dieser Art müßten eben andere für ihn übernehmen. Er ziehe es vor, sich um seine eigenen Sachen zu kümmern. Z. sagte zu den Bekenntnissen seines Freundes, eine Zeitenthobenheit dieses Formats sei eindrucksvoll. Ob sie als Vorbild gelten könne, lasse er jedoch dahingestellt.
110 »Mir ist aufgefallen, daß es überall von Szenen wimmelt, nicht nur in Berlin, auch im Hinterland. Die Kunstszene, die Clubszene, die Filmszene, die Rotlichtszene, die linke, die lesbische, die Hacker-, Sammler-, Stringtheorie-, Avantgardeszene und so weiter. Viele dieser Aufenthaltsorte sind überfüllt, weil es Leute gibt, die unbedingt dazugehören wollen.Ich muß gestehen, daß sie bei mir einen Fluchtreflex auslösen.« Obwohl er sich zu den Menschenfreunden zähle, sagte Z., sei und bleibe er szenophob.
111 Der magere Herr, den wir den Soziologen nannten, war wieder erschienen, obwohl Z. ihn mit der Andeutung, er neige zum Verfolgungswahn, gekränkt hatte.
Er wollte wissen, was von den philosophischen Schriften Derridas zu halten sei.
»Das dürfen Sie mich nicht fragen.« Mit diesen Worten setzte sich Z. zur Wehr. Genausogut könnte man von ihm verlangen, daß er sich eine begründete Meinung über die Sieger oder Siegerinnen im Europäischen Popmusik-Wettbewerb oder über die Leistungen der deutschen Volleyball-Meisterschaft bilde.
»Bevor Sie Anstoß an dieser Antwort nehmen, bedenken Sie bitte, daß ich mit ihr niemanden brüskieren möchte. Sie ist als pure Notwehr zu verstehen. Denn die Zahl der Zelebritäten nimmt seit geraumer Zeit hyperbolisch zu. Ich bin der Aufgabe, mir ihre Namen zu merken, einfach nicht gewachsen. Deshalb schütze ich mich mit der Tarnkappe der
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