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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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faltete den Stadtplan von Targat auseinander, in dessen rechter, oberer Ecke entgegen der geographischen Ordnung Tindirma mit eingezeichnet war. Er klappte das Brillenetui auf und wieder zu und betastete es. Betastete den Ball. Ein aus verschiedenfarbigen Segmenten zusammengenähter Ball für kleine Kinder… blau, rot, gelb und ein verwaschenes Orange, das einen an die Farbe abgeschnittener Fingerkuppen erinnerte, wenn man umständehalber eine Disposition dafür hatte. Gefüllt schien der Ball mit einer Art Holzwolle oder zähem Schaumstoff. Carl drückte und knetete ihn und versuchte, einen Kern zu ertasten. Er biss in den Ball und riss ihn in Fetzen. Holzwolle, Holzwolle, noch mehr Holzwolle. Schließlich nahm er erneut die Aktentasche und dann der Reihe nach alle anderen Gegenstände in die Hand, betrachtete sie und drehte sie hin und her. Er durchsuchte abermals das Handschuhfach und schaute unter alle vier Fußmatten. Im Fußraum des Beifahrers fand er nun noch einen winzigen Bleistiftstummel und einen Einkaufszettel, auf dem untereinander die Worte Obst, Wasser, Eier und Rind standen. Er sah auf den Zettel wie auf eine Mitteilung aus einer anderen Welt und fing an zu weinen.
    Mit einer schwungvollen Bewegung warf er dann das Knäuel Holzwolle aus dem Fenster, stopfte alles andere, was er gefunden hatte, in seine Taschen, schloss den Mercedes ab und ging zurück zu Helens Auto. Dort lag seine Notiz unverändert auf dem Fahrersitz, von Helen keine Spur. Das Tor zum Hof der Kommune war nun mit einem Holzgatter verschlossen. Carl rüttelte daran und spähte durch die Ritzen. Er rief Helens Namen.
    Schreiend und mit einem Knüppel bewaffnet, trabte hinter ihm ein Mann die Straße hinunter. Von ferne hörte man mehr Geschrei.
    Carl setzte sich in den Pick-up, strich seine vorige Botschaft aus und schrieb stattdessen an Helen, dass er zwar noch immer nicht wisse, wer er sei, dass sie aber wahrscheinlich mit zwei Autos nach Targat zurückfahren würden. Denn er habe sein eigenes Auto gefunden, einen gelben Mercedes mit schwarzen Sitzen, in Pfeilrichtung die Straße runter, und ebendort würde er jetzt auch auf sie warten, in einem Café in Sichtweite. Er schrieb, dass er sehr glücklich sei und unglücklich zugleich und inständig hoffe, ihr, Helen, sei nichts passiert. Dann hielt er inne und strich zuerst das Wort «inständig» wieder und dann den ganzen letzten Satz, da er spürte, dass er ihn weniger an Helen als an sich selbst gerichtet hatte. Er las noch einmal den ganzen Text. In winzigen Buchstaben und mehrfach um die Ecke herumgebogen bedeckten seine Zeilen kaum mehr entzifferbar das Papier. Er zog den kleinen Notizblock aus der Tasche, um alles noch einmal ins Reine zu schreiben, und als er den Block auf das Armaturenbrett legte, entdeckte er im seitlich einfallenden Sonnenlicht Einkerbungen auf dem obersten Blatt.
    Mit dem Bleistiftstummel schabte er behutsam darüber, und ein Wort in weißen Druckbuchstaben wurde sichtbar: CETROIS.
    Weiter nichts. Lange betrachtete Carl die Schrift und schrieb dann die sieben Buchstaben noch einmal daneben. Sie sahen exakt gleich aus. Es war seine Handschrift. Warum hatte er sich den Namen notiert? War er auch schon vor seinem Gedächtnisverlust auf der Suche nach Cetrois gewesen? Bisher war er davon ausgegangen, in dem Gesuchten so etwas wie seinen Freund zu finden, wenigstens eine Art Kumpel. Jedenfalls jemanden, der sein Schicksal teilte, von vier Idioten in weißen Dschellabahs verfolgt worden zu sein. Aber wozu schrieb man sich den Namen eines Kumpels oder eines Vertrauten – und nur den – auf einen Notizblock? Um ihn zu besuchen? Ihn anzurufen? Ihm fiel nichts wirklich Passendes ein, und je länger er auf die weißen Buchstaben starrte, desto sicherer wurde er, dass Cetrois kein Kumpel von ihm war. Jedenfalls keiner, den er gut kannte. Wahrscheinlich sogar ein gänzlich Unbekannter. Helen hatte also vermutlich recht gehabt.
    In dem kleinen Straßencafé und mit Blick auf den gelben Mercedes trank Carl ein Eiswasser und wartete. Während er sich sein erstes Erwachen und die Flucht aus der Scheune noch einmal zu vergegenwärtigen versuchte und dabei, ohne es zu merken, mit einer Hand komplizierte geometrische Figuren in die Luft zeichnete, fiel ihm eine Frau am Nebentisch auf, die ihn anstarrte. Ihn anlächelte.
    Hatten die tastenden Bewegungen seiner Hand sie dazu veranlasst? Oder kannte sie ihn? Er senkte den Blick, und als er sie erneut ansah, lächelte sie noch

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