Herrscher über den Abgrund
Darüber lag ein Balken. Er vermutete, daß sich die Metallplatte heben ließ. Ob sich unten wohl ein Vorratsraum befand?
Er holte sich aus dem Holzkasten ein Scheit, um die sonderbare Tür aufzustemmen. Es bedurfte einiger Anstrengung, doch dann gelang es ihm, die Platte auf die Seite zu schieben. Gespannt blickte er in die Finsternis hinunter. Und da entdeckte er im unsicheren Widerschein des Feuers eine Metalleiter: es gab einen Weg in die Tiefe.
Er legte sich auf den Bauch und tastete die Leiter so weit ab, wie er hinunterreichen konnte. Die Sprossen waren mit einem anderen Metall nachlässig umkleidet. Der Geruch, der ihm in die Nase stieg, kam allerdings nicht aus einem Vorratslager. Es roch muffig und unangenehm, so daß er seinen Kopf rasch zurückzog und husten mußte. Das größere der beiden Tiere war ebenfalls zu der Öffnung gekommen und steckte jetzt seine Schnauze hinein. Es zischelte wütend und gab so seinem Mißfallen an dem Unbekannten Ausdruck. Sander schob die Platte wieder zurück, denn er verspürte nicht den Wunsch, die Finsternis dort unten näher zu erforschen. Er steckte zusätzlich das Holzscheit durch den Metallring, so daß die Platte verkeilt war. So hoffte er, würde dies eine ausreichende Sicherung sein. Wogegen wußte er nicht, doch hatten ihn seine Abenteuer im Wald und mit den Wasserkreaturen gelehrt, sich für alle Fälle vorzusehen.
Ab und zu traf ein Windstoß die Hütte. Sie aber hatten sich nahe um das Feuer gedrängt, um ihre Kleider zu trocknen. Der Holzbehälter war gut gefüllt gewesen, aber Sander fürchtete, daß der Vorrat nicht ausreichen würde. Er sah sich um und bemerkte die Borde, die man sicher von der Wand schlagen konnte, um sie zu verfeuern. Im Moment allerdings genügte es ihm, die Wärme zu spüren und die Gewißheit zu haben, daß sie einen sicheren Unterschlupf gefunden hatten, der nicht so unheimlich wie die Ruinen war.
Das Brüllen des Sturms wurde manchmal von einem dumpfen Krachen begleitet, und Sander vermutete, daß wieder einer der Steinhügel von der Gewalt des Sturms eingestürzt war. Durch die schmalen Fensterschlitze unter dem Dach sahen sie bisweilen das grelle Aufleuchten von Blitzen. Die Tiere schienen jetzt unruhig zu werden und lagen nicht so sorglos am Feuer wie zu Anfang.
Sander beobachtete sie genau. Er war nicht sicher, ob es allein die Unbändigkeit der Naturgewalten vor der Hütte war, die die Tiere verstörte. Im Geist malte er sich die Gefahren aus, die vielleicht in diesem Moment auf ihren Unterschlupf zukrochen. Zweimal stand er auf, um den Balken an der Tür zu prüfen und die Sicherung der Metallplatte. Beide schienen ihm ausreichend.
Als sie gegessen hatten, setzte Fanyi sich nahe an das Feuer, legte sich den weiten Mantel um und ließ ihr Untergewand trocknen. Ihre Haare waren verfilzt, aber sie gab sich keine Mühe, sie zu ordnen, sondern saß mit geschlossenen Augen da und hielt den Anhänger in der Hand. Sie wirkte abwesend. Sie hätte auch schlafen können, hätte sie nicht aufrecht gesessen. Sander fand sich damit ab, daß diese Haltung und Versunkenheit Teil ihrer Priesterschaft war.
Nacheinander kamen die beiden Tiere und legten sich neben sie, die Köpfe auf die Pfoten gestützt. Doch auch sie schliefen nicht, denn sobald Sander auch nur die geringste Bewegung machte, sah er ihre hellen Augen, die ihn beobachteten.
Er fühlte sich rastlos und ausgeschlossen. Endlich legte sich Rhin zwischen Tür und Feuer nieder, doch er hatte immer noch die Ohren lauschend aufgestellt.
Das Rollen des Donners erstarb allmählich, und die hohen Fenster wurden nicht mehr von den Blitzen erhellt. Das Trommeln des Regens allerdings blieb gleichmäßig stark. Ihr Nachtmarsch war anstrengend gewesen, und Sander sehnte sich nach Schlaf. Hin und wieder nickte er ein, nur um kurz darauf hochzuschrecken. Doch bald war er erneut eingenickt. Die Sorge hielt ihn von einem gesunden Schlaf ab. Und seine Wachsamkeit erwies sich als notwendig, denn plötzlich hob Fanyi den Kopf und öffnete die Augen. Sie schien angestrengt zu lauschen.
Keines der drei Tiere allerdings zeigte die geringste Unruhe.
„Was ist los?“ wollte Sander wissen.
Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Es ist ein Gedanke – ein suchender Gedanke …“, antwortete sie. Aber sie sprach, als wollte sie ihre Konzentration nicht beeinträchtigen.
Die Worte ergaben für Sander keinen Sinn. Gedanke – was war ein suchender Gedanke?
„Da ist jemand –
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