Herrscher
durchmaß zehn Schritte und lag teilweise unter der Erde. Dar stieg eine kurze Treppe zu dem Steinfußboden hinab. Eine kleine Öffnung am Scheitelpunkt der Decke ließ trübe Helligkeit und gelegentlich eine Schneeflocke herein. Ihr Blick schweifte durch die Kammer, in der sie eine schwere Prüfung bestanden und eine große Freude erlebt hatte. Das Loch in der Mitte des Fußbodens war mit einem Steindeckel verschlossen worden; sonst jedoch hatte sich seit ihrer Wiedergeburt anscheinend nichts verändert.
Dar fragte sich, ob unter dem Boden wohl noch Wasser vorhanden war; falls ja, musste es sicherlich gefroren sein. Der Steindeckel und seine Umgebung wiesen eine feine Schneeschicht auf, und bei jedem Ausatmen bildete Dars Atem ein Dunstwölkchen.
Als sie Meera-yat am Eingang hörte, eilte Dar hinauf, um ihr die Treppe hinabzuhelfen. »Sei gegrüßt, Mutter«, rief sie ihr ins Ohr. »Du hast für unser Gespräch einen kalten Ort gewählt. Glaubst du, es ist hier warm genug für dich?«
»Mein Befinden ist unwichtig, Muth Mauk.«
Dar führte Meera-yat zu einer Stelle, an der kein Schnee lag. Meera-yat kauerte sich hin, und Dar hockte sich zu ihr.
»Was hat Zor-yat dir über das Amt der Großen Mutter erzählt?«, fragte Meera-yat.
Das steinerne Rund der Kuppel verstärkte Dars Stimme, sodass sie nicht zu schreien brauchte. »Nur dass ich das Fathma weitergeben soll.«
»Hat sie erwähnt, was danach geschieht?«
»Thwa, aber Nir-yat hat mich eingeweiht.«
»Nir-yat hat einen guten Brustkorb, sie trägt ihren Namen mit Recht«, sagte Meera-yat. »Ich nehme an, du willst das Fathma behalten.«
»Vor mir liegen unerledigte Aufgaben. Ich kann noch nicht sterben.«
Meera-yat nickte. »Du denkst schon wie eine Königin. Muth’la hat der Königin geholfen, bei der Wahl ihrer Nachfolgerin klug zu urteilen.«
»Ich war die einzige anwesende Mutter. Die Königin hatte gar keine Wahl.«
»Glaubst du nicht«, fragte Meera-yat, »dass darin Muth’las Wirken zu erkennen ist?«
»Muthuri glaubt es nicht.«
»Es liegt mir fern, etwas Nachteiliges über deine Muthuri zu sagen, aber … Hmmm! Einerlei, ich sage dir, was du wissen musst. Die Große Mutter ist Muthuri aller Urkzimmuthi. Das beachte, und du lernst das Herrschen leicht.«
Ich hatte nie Kinder, dachte Dar. Wie kann ich dennoch Muthuri sein? Sie erinnerte sich, dass ihre menschliche Mutter sich demütig einem Mann untergeordnet hatte. Und der hatte ihren Geist zermalmt. Nach einem solchen Vorbild konnte sie sich unmöglich richten. »Dein Rat klingt nach Weisheit, aber ich lebe noch nicht lange unter den Urkzimmuthi«, antwortete Dar. »Und ich habe mehr Zeit mit Söhnen als mit Müttern zugebracht.«
»Du musst klar sehen, dass Muth’la die Welt durch Mütter beherrscht. In ihren Hanmuthis gleichen Mütter Muth’la. Sei wie sie. Zeige Liebe, fordere Gehorsam und …« Meera-yat lächelte. »… sei auf Schwierigkeiten gefasst. Nicht alle Kinder sind friedlich, am wenigsten Töchter. Manche sind sogar widerspenstig. Du musst voller Entschlossenheit sein.«
Dar versuchte sich auszumalen, wie sie entschlossen gegen Zor-yat und Muth-yat auftrat. »Das wird nicht einfach sein.«
»Alle erwarten, dass die Königin den Weg weist. Wenn du Zuversicht verbreitest, werden sie dir folgen.«
»Aber wie soll ich ihnen den Weg weisen?«, fragte Dar. Mit der vorherigen Königin hatte sie ausschließlich unmittelbaren Umgang gehabt. Als sie die Orks in den Kampf gegen König Kregant geführt hatte, war sie von ihren Kriegern umgeben gewesen. Dar hatte keine Vorstellung, wie man über Untertanen herrschte, die in zahlreichen, weithin verstreuten Familiensitzen lebten. König Kregant hatten Höflinge unterstanden, die seine Befehle ausführten. Unwillkürlich kam Dar die Frage in den Sinn, ob sie womöglich
auf ähnliche Hilfe zurückgreifen konnte. »Wer unterstützt mich beim Herrschen?«
»Die Sippenmatriarchinnen und deine Mintari.«
Das letztere Wort kannte Dar nicht. Es setzte sich aus »Sohn« und »gebissen« zusammen. »Ich habe in Zna-yats Nacken gebissen, und nun gehört sein Leben mir«, sagte Dar. »Verhält es sich mit Mintari ähnlich?«
»Hai. Wenn ein Sohn dein Mintari wird, ist er zuallererst dir verpflichtet. Du stehst für ihn an erster Stelle, noch vor der Sippenmatriarchin und sogar seiner Muthuri. Die Wahl deiner Mintari ist eine wichtige Entscheidung. Es ist am klügsten, sie aus allen Sippen auszuwählen. Sammle Söhne um dich, aber gib nie
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