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Herz an Herz

Herz an Herz

Titel: Herz an Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofie Cramer , Sven Ulrich
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genauso wenig reizen, wie mit Ihrer offenherzigen Nachbarin Petzi einen Rotwein zu trinken. Ich könnte auch dem Vorschlag meines schwulen Freundes folgen und mich für ein Speed-Dating ordentlich aufbrezeln, um mein Selbstwertgefühl durch wohlwollende Blicke und schmeichelnde Bestätigung fremder Männer zu verwöhnen. Aber auch das würde ich nicht eintauschen wollen gegen eine Mail von Ihnen.
     
    Wann immer ich Ihre Worte lese, wird mir warm ums Herz. Ich finde das befremdlich und angenehm zugleich. Aber wie ich es auch drehe und wende in meinen Tagträumen und Einschlafgedanken – ich begreife einfach nicht, worin die Versuchung liegt, mich auf unsere sonderbare Art der E-Mail-Verbindung einzulassen.
    Inzwischen habe ich akzeptiert, dass ich auf diese Fragen derzeit keine Antwort finde. Und weil genau darin vermutlich eine gewisse Verlockung liegt, möchte ich meine Überlegungen dazu mit Ihnen teilen.
    Als Erstes drängte sich mir der Verdacht auf, dass das Spiel mit Nähe und Distanz die Faszination ausmacht. So erscheint es mir reizvoll, einem Fremden zumindest zeitweise nahe zu sein, obwohl er über 800 Kilometer entfernt lebt. Ich kann alles sagen, ohne dass ich mich bei einem zufälligen Treffen plötzlich schämen müsste. Andererseits erklärt diese Hypothese nicht, warum ich so erpicht darauf bin, Zeilen von einem Mann zu lesen, mit dem ich genauso gern auch mal einen Kaffee trinken würde – wenn er denn gleich bei mir um die Ecke wohnen würde.
    Eine zugegeben weniger schmeichelhafte Erklärung ist die einer klassischen Therapeuten-Patienten-Verbindung. Obwohl es einer meiner Leitsätze im Job ist, Berufliches und Privates nicht zu vermischen, frage ich mich, ob mir das in Ihrem Fall gelingt. Ein paar kleine liebenswürdige Charakterzüge scheinen mir nämlich genügend Stoff für, sagen wir, 12 Sitzungen zu liefern. Doch keine Sorge. Erstens bin ich überzeugt davon, dass beinahe jeder Mensch eine Therapie vertragen könnte. Und zweitens gebe ich dieser Hypothese in unserem Fall lediglich einen Wahrheitsgehalt von 10%.
     
    Um ehrlich zu sein (und das will ich ja ebenso wie Sie), hänge ich am ehesten an der Theorie, dass ich deswegen so gern mit Ihnen meine Samstagabende verbringe, weil Sie mir seltsam vertraut, aber doch nicht zu nahe sind. Es scheint also doch um ein Spiel von Nähe und Distanz zu gehen. Aber eines, das nicht durch geographische Umstände beeinflusst werden könnte. Es ist mir nämlich egal, ob Sie nebenan oder aber am nördlichsten Zipfel Sibiriens wohnen. Das Einzige, was zählt, ist, dass Sie einen Internetzugang zu meinem Innersten, meinem Herzen haben. Sie berühren es, ohne dass ich es öffnen müsste. Verstehen Sie, wie ich es meine? Natürlich verstehen Sie. Das ist ja das Wundervolle …
    Doch für heute soll es genug sein. Sonst laufe ich noch Gefahr, von halbdurchsichtigen Sentimentalitäten ins entzauberte Persönliche abzudriften. Denn der Zauber ist es, den ich uns gern noch eine ganze Zeit lang bewahren würde.
     
    Herzliche Grüße
    Sara
     
    PS . Ich könnte Ihnen die Lektüre meiner Mails erleichtern, indem auch ich meine Sätze mit diesen peinlichen Zwinkersmileys kenntlich mache, an Stellen, hinter denen sich garstige Ironie versteckt.
     
    PPS . Im Übrigen haben Sie sich aus der Kategorie «kultiviert» schon wieder selbst befreit. Ein Banause, der Anna Netrebko nicht kennt, wandert automatisch zwei Schubladen tiefer … ;-)
    ***
    24. Oktober 2010
     
    Liebe Sara Becker,
     
    draußen ist es Sonntag und kalt. Dunkel ist es auch. Das liegt daran, dass ich bei einem sehr frühen Frühstück sitze. Es ist 7 Uhr, und gleich werde ich mich auf mein Fahrrad setzen und zum Starnberger See radeln, schwimmen und wieder zurück radeln. Warum? Nun, es ist Sonntag, und ich werde heute meine Mutter sehen, und dieses morgendliche Schwimmen ist mein heutiges Abenteuer. (Sie erinnern sich? Die ungewöhnlichen Dinge, die ich mir bei jedem Besuch meiner Mutter vorgenommen habe?) Verrückt? Keine Ahnung. Aber aus diesen Dingen besteht mein kleines Leben eben gerade. So wie mein Leben auch daraus besteht, dass ich mir mit einer einsamen Psychiaterin aus Hamburg schreibe und zulasse, dass mein ehemals geregeltes Leben langsam immer chaotischer und ungeordneter wird. (Nein, nicht nur frage ich mehr als zweimal am Tag meine Mails ab, ich lese auch meine Fachbücher nicht mehr und, und, und …) Mein Leben ändert sich durch ein paar Briefe und eine Frau, die ich kaum

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