Herz aus Eis
satt waren. Er hatte diese Kinder am gestrigen Tag nicht gesehen; aber er konnte sich auch nicht entsinnen, in diesem Teil des Lagers gewesen zu sein, wo die Behausungen aus Teerpapier und plattgeschlagenen Konservenbüchsen bestanden.
»Bring uns alle um«, kreischte die Frau. »Dann sind wir besser dran. So müssen wir alle verhungern.«
Auf der Kiste, die offenbar als Tisch diente, sah Kane einen halben verschimmelten Brotlaib. Andere Nahrungsmittel vermochte er hier nicht zu entdecken.
»Sir«, sagte der Lakai, der hinter Kane in die Hütte gekommen war, »sie brauchen Helfer bei der Bergung der Leichen.«
»Ja«, sagte Kane leise, während er wieder aus der Hütte trat und die Frau hinter ihm in lautes Weinen ausbrach. »Wer sind diese Leute?« fragte er den Diener, als sie wieder im Freien waren.
»Sie können sich die Miete für die Baracken nicht leisten, die von der Bergwerksgesellschaft hier aufgestellt werden. Sie beträgt zwei Dollar pro Raum und Monat. Und deshalb verpachtet ihnen die Gesellschaft ein Fleckchen Land für einen Dollar monatlich, auf dem sie sich dann selbst aus dem Material, das sie hier finden, eine Hütte bauen können.« Der Diener deutete mit dem Kopf auf den Slumbezirk des Lagers, in dem sich die Hütten aus Konservenbüchsenblech und Holzabfällen drängten. Kane glaubte sogar, an einer Wand Überreste von den Kisten zu entdecken, in denen gestern noch die Baseballausrüstung verpackt gewesen war.
»Was wird aus den Frauen, deren Männer in der Grube umkamen?«
Der Mund des Dieners wurde zu einem grimmigen Strich.
»Wenn sie Glück haben, bezahlt ihnen die Gesellschaft noch den Lohn für ein halbes Jahr; doch dann bleiben sie und ihre Kinder ihrem Schicksal überlassen. Was auch passiert — die Gesellschaft wird stets behaupten, die Bergarbeiter seien an der Explosion selbst schuld gewesen.«
Kane straffte sich. »Wenigstens können wir diesen Frauen jetzt helfen. Als erstes werden wir Lebensmittel an sie verteilen.«
»Wo sollen wir die denn hernehmen?« fragte der Diener. »Vor vierzig Jahren gab es hier einen Aufstand, und die Bergarbeiter stürmten den Laden der Bergwerksgesellschaft. Deshalb haben die Läden in allen Zechen nur noch das Allernötigste an Lebensmitteln und anderen Waren auf Lager.« Der Mann verzog den Mund. »Und die Stadt will auch nicht helfen. Wir haben uns bei der letzten Grubenexplosion an das Rathaus gewandt und um Unterstützung gebeten; aber dort sagte man uns, wir müßten den >Dienstweg< einhalten.«
Kane ging nun auf das Zentrum des Lagers zu, wo sich auch der Schacht mit dem Förderkorb befand. Vor dem Eingang der Zeche lagen drei mit Planen zugedeckte Leichen; zwei Männer trugen einen Schwerverletzten zum Maschinenhaus hinüber, wo er Blair und zwei Männer bei der Arbeit sehen konnte. Kane trat zu Leander und fragte:
»Wie schlimm ist es?«
»Es könnte nicht schlimmer sein«, antwortete Leander. »Es ist so viel Gas im Stollen, daß die Bergungsmannschaft bewußtlos wird, ehe sie an die Verunglückten herankommen kann. Wir können noch nicht genau sagen, was eigentlich passiert ist und wie viele tot sind, weil die Explosion sich nach innen, statt nach außen entlud. Es könnte sein, daß dort unten noch viele Männer in den Tunnels sind, die sich vor der Explosion retten konnten; jetzt aber von der Außenwelt abgeschnitten sind. Jemand soll sie aufhalten, ja?« rief Lee, ehe er zum Eingang der Zeche lief, um mit dem Förderkorb in die Grube einzufahren.
Kane stellte sich der Frau in den Weg, auf die Lee gedeutet hatte. Sie wollte zu einer halb verkohlten Leiche rennen, die soeben aus dem Schacht geborgen worden war. Sie war ein kleines, schmächtiges Ding, und er hob sie auf seine Arme. »Ich bringe Sie nach Hause«, sagte er; aber sie schüttelte nur den Kopf.
Eine andere Frau trat zu ihnen. »Ich werde mich um sie kümmern.«
»Haben Sie Brandy im Haus?« fragte Kane.
»Brandy?« fauchte ihn die Frau an. »Wir haben hier nicht einmal frisches Wasser.« Sie half Kane, die Frau zu stützen, als er sie wieder auf den Boden stellte.
Zwei Minuten später saß Kane erneut im Sattel und sprengte im Galopp den Abhang hinunter und auf Chandler zu. Er passierte Houston, die mit ihrem Fuhrwerk zur Mine unterwegs war, und sie rief ihm etwas zu. Doch er galoppierte im unvermindertem Tempo an ihr vorbei, ohne ihr eine Antwort zu geben.
Er sprengte durch die Straßen der Stadt und hätte um ein Haar ein paar Fußgänger niedergeritten,
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