Herz aus Feuer
Blutsturz bekam. Am dritten Tag unterstützte sie ihn bei einer Notoperation auf dem Küchentisch, wo er einer Patientin den Blinddarm entfernte. Henry meinte, er hätte noch niemanden erlebt, der so für den medizinischen Beruf begabt sei wie Blair. Ich brauchte eine Weile, bis ich den Schock überwunden hatte, daß meine Tochter vielleicht Ärztin werden wollte; aber als ich mit Blair darüber sprach, hatte sie ein Leuchten in den Augen, wie ich es bisher noch nie bei ihr gesehen hatte. Da wußte ich, daß ich ihr helfen mußte, sich in ihrem Traumberuf ausbilden zu lassen, wenn das irgend möglich war.«
Mit einem tiefen Seufzer fuhr sie fort: »Freilich hatte ich dabei nicht mit Mr. Gates gerechnet. Als wir nach Chandler zurückkehrten, redete Blair nur noch davon, daß sie Ärztin werden würde. Mr. Gates wollte nicht dulden, daß ein Mädchen unter seiner Obhut einer so undamenhaften Tätigkeit nachginge. Ich hielt mich ein Jahr lang zurück und mußte Zusehen, wie Blair immer geknickter wurde. Ich glaube, Mr. Gates brachte bei mir dann das Faß zum Überlaufen, als er der Bibliothek verbot, Blair weiterhin Bücher mit medizinischen Themen auszuleihen.«
Opal lachte kurz. »Das war meines Wissens das einzige Mal, wo ich mich Mr. Gates’ Wünschen widersetzt habe. Henry und Flo hatten keine Kinder. Sie baten mich, Blair bei ihnen wohnen zu lassen, und Henry versprach mir, wenn Blair in sein Haus käme, würde er für die beste Ausbildung sorgen, die man heutzutage einer Frau mit Geld verschaffen könne. Ich wollte mich natürlich nicht von meiner Tochter trennen; wußte aber, daß ich gar keine andere Wahl hatte. Wenn sie hiergeblieben wäre, hätte Gates ihren Geist gebrochen.«
Sie drehte sich Lee zu. »Vielleicht verstehst du jetzt, was die Medizin für Blair bedeutet. Schon als heranwachsendes Mädchen war sie für Blair ihr ganzer Lebensinhalt, und jetzt. . .« Sie hielt inne und zog einen Kuvert aus der Tasche. »Diesen Brief bekam ich vorgestern. Er stammt von Henry. Er schickte ihn mir, damit ich Blair die Neuigkeit so schonend wie möglich beibringen sollte. Darin steht, der Krankenhausreferent des Magistrats von Philadelphia habe trotz der Tatsache, daß das St.-Josephs-Spital Blairs Bewerbung als Assistenzärztin bereits angenommen, und trotz der Tatsache, daß sie bei dem dreitägigen Prüfungsverfahren als Beste abgeschnitten hat, gegen ihre Berufung sein Veto eingelegt, weil es seiner Ansicht nach eine Ungehörigkeit sei, eine Lady so eng mit Männern zusammenarbeiten zu lassen.«
»Aber das ist doch . . .« brauste Lee auf.
»Ungerecht? Nicht ungerechter als dein Wunsch, daß sie die Medizin aufgeben und zu Hause aufpassen soll, daß das Dienstmädchen deine Hemden genauso bügelt, wie du sie gern haben möchtest.«
Leander blickte in den Garten hinaus und sog nachdenklich an seiner Zigarre.
»Vielleicht würde sie gern mit mir ein paar Patienten in der Umgebung der Stadt besuchen. Keine schweren Fälle natürlich, nur Routinevisiten bei Rekonvaleszenten.«
»Ja, ich denke, das würde ihr gefallen.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Und ich bin überzeugt, Lee, daß du dann eine andere Blair als bisher kennenlernen wirst. Denn hinter Blairs Offenheit, an der sich die Leute manchmal stoßen, verbirgt sich ein großes Herz. Wenn du fortfährst, diesen Mr. Hunter in ihren Augen lächerlich zu machen, wird sie dir das nie verzeihen, geschweige denn anfangen, dich zu lieben. Zeig ihr den Leander, den diese Stadt kennt
— der so manchesmal um drei Uhr morgens aufsteht, um sich Mrs. Lechners Klagen über geheimnisvolle Schmerzen anzuhören. Den Leander, der im vergangenen Sommer Mrs. Saundersons Zwillinge rettete. Den Leander, der . . .«
»Schon gut«, unterbrach Lee sie lachend. »Ich werde ihr den Heiligenschein zeigen, der über meinem Haupte schwebt. Glaubst du, daß sie tatsächlich etwas von der Medizin versteht?«
Nun war es Opal, die laut auflachte. »Hast du schon mal was von Dr. Henry Thomas Blair gehört?«
»Dem Pathologen? Aber natürlich. Einige seiner fortschrittlichen Verfahren bei der Seuchenerkennung sind auch hier eingeführt. . .« Er stutzte. »Ist er ihr Onkel Henry?«
Opal zwinkerte vergnügt. »Er ist es. Und dieser Henry sagt, daß Blair gut ist — sehr gut sogar. Gib ihr eine Chance. Du wirst es nicht bereuen.«
Kapitel 10
Blairs Tag besserte sich nicht durch das Tennisspiel mit Alan. Während ihrer medizinischen Ausbildung hatte ihr Onkel immer wieder
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