Herz aus Feuer
dachte er an den Tag zurück, wo er den Mann, dem die Kohlengruben in der Umgebung von Chandler gehörten — Jacob Fenton —, gegen Blair in Schutz genommen hatte. Er hatte Fenton mit dem Hinweis verteidigt, daß der Mann seinen Aktionären verantwortlich sei und deshalb nicht allein die Verantwortung trage für das Elend der Bergarbeiter. Lee machte des öfteren solche Bemerkungen, damit die Leute keinen Verdacht schöpften. Er durfte ihnen nicht zeigen, wie sehr ihn die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiter in den Kohlengruben empörte.
Bergarbeiter hatten zwei Möglichkeiten: Entweder unterwarfen sie sich den Bedingungen der Bergwerksgesellschaft, oder sie wurden gefeuert. So einfach war das. Doch wer sich diesen Regeln beugte, war kein freier Mann mehr, sondern ein Gefangener.
Alles, was mit den Kohlengruben zusammenhing, war Eigentum der Bergwerksgesellschaft. Die Arbeiter wurden in einer Währung bezahlt, die nur in den Läden der Gesellschaft eingelöst werden konnte, und wenn man einen Bergarbeiter mit einer Ware ertappte, die er in einem Laden in der Stadt gekauft hatte, konnte ihm fristlos gekündigt werden. Nicht daß es den Arbeitern erlaubt gewesen wäre, das Lager zu verlassen, um in die Stadt zu gehen. Die Minenbesitzer vertraten den Standpunkt, daß die Bergwerkslager städtische Kommunen seien und es deshalb die Bergarbeiter und deren Familien nicht nötig hätten, sich etwas aus einer anderen Stadt zu besorgen. Und die Minenbesitzer behaupteten, daß die Wächter an den Lagertoren, die niemanden hinein- oder herausließen, lediglich skrupellose Diebe und Betrüger von den Bergarbeitern fernhalten sollten — also die Bergleute »beschützten«.
Doch in Wahrheit waren die Wächter nur dazu bestellt, Agitatoren von den Arbeitern fernzuhalten. Sie sollten unter allen Umständen verhindern, daß Gewerkschaftsvertreter mit den Bergarbeitern Kontakt aufnahmen und versuchten, sie gewerkschaftlich zu organisieren.
Die Eigentümer wollten jede Möglichkeit eines Streiks von vorneherein unterbinden, und nach dem Gesetz war es ihnen erlaubt, bewaffnete Wächter an den Lagertoren aufzustellen, die jedes Fahrzeug durchsuchen durften, das in das Lager hineinwollte oder es wieder verließ.
Und dabei war es nur sehr wenigen Fahrzeugen gestattet, die Lagertore zu passieren; ein paar alte Frauen aus Chandler, die frisches Gemüse ins Camp brachten; hin und wieder ein Handwerker, um Reparaturen auszuführen; die Mineninspektoren und ein von der Gesellschaft angestellter Arzt, der regelmäßig seine Runden durch die Lager machte — ein Mann von so erbärmlicher fachlicher Qualifikation, daß er sich nicht als freier praktizierender Arzt ernähren konnte. Die Gesellschaft bezahlte ihn vorwiegend mit Whisky, und aus Dankbarkeit ignorierte er das meiste, was er sah, und erklärte bei allen Betriebsunfällen, daß die Gesellschaft keine Schuld träfe, so daß man den Witwen und den Waisen keine Entschädigung zahlen mußte.
Vor einem Jahr hatte sich Lee zu Fenton begeben und ihn um die Erlaubnis gebeten, die Lager zu betreten und — ohne Kosten für die Grubeneigner — den Gesundheitszustand der Bergarbeiter überprüfen zu dürfen. Fenton hatte zunächst gezögert, dann aber doch sein Gesuch bewilligt.
Lee war entsetzt gewesen über die Zustände, die in den Lagern herrschten. Die Armut der Arbeiterfamilien mit anzusehen, ging ihm unter die Haut. Die Männer schufteten den ganzen Tag unter der Erde und konnten am Wochenende doch kaum Frau und Kinder ernähren. Sie wurden nach der Menge der Kohlen bezahlt, die sie förderten; doch ein Drittel ihrer Arbeitszeit war »brotlose Beschäftigung«, wie die Bergleute jene Tätigkeiten bezeichneten, für die sie nicht entlohnt wurden. Und sie mußten die Grubenstempel selbst bezahlen, mit denen sie die Stollen abstützten, weil die Eigentümer meinten, die Sicherheit der Bergleute sei deren Verantwortung, nicht ihre.
Nach seinen ersten Besuchen in den Kohlengruben war Lee sehr still nach Hause zurückgekehrt und tagelang nicht ansprechbar gewesen. Chandler war eine reiche Gemeinde.
Seine Schwester kaufte sich meterlange Bahnen teuren Kaschmirstoff, und in den Bergwerkslagern standen die Kinder barfuß im Schnee. Männer, die ihren sauerverdienten Lohn empfangen wollten, mußte sich vom Zahlmeister sagen lassen, daß ihnen ein Teil davon abgezwackt wurde für Leistungen der Bergwerksgesellschaft.
Und je mehr er darüber nachdachte, um so überzeugter
Weitere Kostenlose Bücher