Herz aus Glas (German Edition)
schaute ich ihn an. Er hatte auch seine eigene Jacke geholt und hielt meine in den Händen. Er wirkte besorgt. »Hier«, sagte er und hielt mir die Jacke, sodass ich nur hineinzuschlüpfen brauchte. »Komm!«, forderte er mich auf und führte mich zu dem Pfad, den wir am ersten Tag schon einmal gegangen waren. Er blieb die ganze Zeit dicht neben mir und ich wusste, dass er bereit war, mich aufzufangen, für den Fall, dass ich umkippen sollte. So abwegig war dieser Gedanke leider nicht. Meine Knie fühlten sich an wie aus Gummi. »Tut mir leid«, sagte ich gequält.
Er schüttelte sanft den Kopf. »Dir geht es schon länger nicht gut, oder?«
Ich dachte an den sonderbaren Blackout auf meinem Balkon, den Nebel, der sich immer wieder in meinen Kopf drängte, und das ständige Schwindelgefühl. Nein, er hatte recht. Es ging mir schon einige Zeit nicht gut und ich wusste nicht, woran es lag. Die gruselige Stimmung, die ich immer wieder wahrzunehmen glaubte, machte alles nur noch schlimmer. Auch jetzt war mir schon wieder so gespenstisch zumute, dass ich das dringende Bedürfnis verspürte, einen Scherz zu machen. »Vielleicht leide ich doch an Madeleines Fluch!«, sagte ich mit rauer Stimme.
David stopfte die Hände in die Taschen seiner Jacke, nahm sie aber gleich wieder heraus. »Das ist nicht lustig!«
Ich holte tief Luft. Regen setzte ein. Er fiel gleichmäßig und ganz senkrecht. Ich spürte, wie mir das kalte Wasser durch die Haare und ins Gesicht rann. Ich ließ es laufen, denn ich war froh darüber. Schon wieder standen mir Tränen in den Augen und so konnte David sie wenigstens nicht sehen.
Wir schwiegen eine Weile. Als wir an die Weggabelung kamen, an der es links zu den Klippen ging, führte David mich nach rechts. Der gewundene Pfad war leicht abschüssig und schmal. Rechts und links wuchsen Büsche, aber obwohl kaum genug Platz war für zwei Leute, um nebeneinanderzugehen, wich David nicht von meiner Seite. Regenwasser und Tränen vermischten sich auf meiner Haut, rannen über meine Wangen nach unten und tropften von meinem Kinn. Eine Weile kämpfte ich wortlos damit, das Schluchzen zu unterdrücken, aber mit der Zeit wurde das schwieriger und schwieriger.
Schließlich – unter einem hochgewachsenen Wacholderbaum, der uns wenigstens ein bisschen Schutz vor dem Regen bot – blieb David stehen und zwang mich, es ebenfalls zu tun. Sanft drehte er mich zu sich um. »Was ist los, Juli?«, fragte er. »Ist es wegen des Armbands?« Er wartete auf eine Antwort, aber ich war unfähig, ihm eine zu geben. Ich brauchte all meine Kraft, um nicht wie ein Schlosshund draufloszuheulen. Verdammt!
»Es tut mir leid, dass ich so grob zu dir war«, murmelte David.
Verdammt! Verdammt!
»Das ist es nicht!«, begehrte ich auf. Meine Lippen bebten und ich war unfähig, das zu unterdrücken.
David stand ganz aufrecht und ganz ruhig da und wartete geduldig, dass ich weitersprach, aber stattdessen begann ich, nun wirklich zu schluchzen. »Es ist nur … ich bin hier, weil ich dir helfen soll, aber es geht irgendwie nicht …« Ich holte so tief Luft, wie ich konnte. »Ich wollte mich nicht in dich verlieben, David. Du hast selbst gesagt, dass ich alles nur noch komplizierter mache, deshalb habe ich versucht, mich nicht in dich zu verlieben, aber ich …« Die Stimme versagte mir, ich wollte noch etwas hinzufügen, aber ich kam nicht mehr dazu, denn jetzt seufzte David.
»Ach, Juli!« Und dann trat er einen Schritt näher, hob die Arme und schlang sie um meine bebenden Schultern. Das war es, wonach ich mich die ganze Zeit gesehnt hatte! Ganz fest zog er mich an sich. Seine nasse Haut roch so gut.
»Ich möchte dich nicht noch mehr belasten«, murmelte ich, aber er machte nur: »Schscht!« Es fühlte sich unendlich gut an, von ihm festgehalten zu werden, aber es führte auch dazu, dass meine Selbstbeherrschung in sich zusammenkrachte wie ein Kartenhaus. Hemmungslos weinte und weinte ich, während David mir beruhigend über den Rücken strich und der Regen auf uns niederfiel und uns bis auf die Knochen durchnässte.
»Es ist gut«, sagte David wieder und wieder. »Es ist alles gut!«
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte, aber irgendwann begannen meine Zähne zu klappern und zu dem andauernden Schwindelgefühl kam jetzt auch noch ein Zittern. Es dämmerte bereits, der Himmel über uns hatte die Farbe von altem Blei.
David schob mich von sich fort und betrachtete mich. »Deine
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