Herz aus Glas (German Edition)
fauchte ich. Ich konnte einfach nicht mehr anders, ich hatte mich viel zu lange beherrscht und gute Miene zum bösen Spiel gemacht, sodass mein ganzer Frust und mein ganzer Kummer jetzt als pure Giftigkeit aus mir herausbrachen. »Warum nur benimmst du dich wie ein Arschloch?« Ich stemmte die Hände in die Hüften, japste nach Luft, bevor ich weitersprechen konnte. Dann schnappte ich: »Ist das Ding etwa auch von Charlie?«
David senkte den Kopf und schwieg.
»Rede endlich mit mir!«, schrie ich ihn an. »Hat dieser Armreif auch etwas mit Charlie zu tun?« Mir standen jetzt Tränen in den Augen und ich wusste nicht, ob sie vor Wut oder Kummer kamen. Zornig zwinkerte ich sie weg. »Hat dieser Armreif …«
»Ja«, sagte David. Ich fühlte mich wie mit hundert Stundenkilometern gegen eine Betonwand geprallt.
»Was?«, hauchte ich. Trotz allem, was schon geschehen war, hatte ich nicht mit so einer Antwort gerechnet. Die Schiffsplanken unter meinen Füßen fühlten sich plötzlich brüchig an. Ich wollte noch etwas sagen, aber es ging einfach nicht mehr. Es war alles zu viel. Ich fühlte mich restlos leer, ausgelaugt und vor allem unendlich schuldig. Der Wind fegte vom Meer her über den Fähranleger und krallte sich in meinen Körper wie an dem Tag meiner Ankunft. Ich fror nicht. Ich hatte in den letzten Tagen für den gesamten Rest meines Lebens genug gefroren und wahrscheinlich war ich inzwischen selbst zu Eis geworden. Warum zum Henker tat mein Herz dann aber so weh? Wütend wischte ich mir die Tränen fort, die hinter meinen Lidern hervordrängten.
Da drehte sich David zu mir um. In seinem Gesicht zeichneten sich mehrere Gefühle gleichzeitig ab, von denen ich kein einziges verstehen konnte. Er streckte die Hand nach mir aus, war aber nicht nahe genug, um mich zu erreichen.
Wieder wischte ich mir über die Wangen. Das neblige Gefühl, das ich schon auf dem Balkon und auch auf den Klippen gespürt hatte, kehrte zurück, füllte meinen Kopf mit Müdigkeit. »Scheiße!«, murmelte ich und wünschte mir in diesem Augenblick nichts mehr als Davids Berührung.
Doch er berührte mich nicht. Stattdessen nahm er mir den Armreif aus der Hand, drehte ihn nachdenklich.
Dann warf er ihn mit einer entschlossenen Bewegung so weit ins Meer hinaus, wie er konnte.
Ich sah zu, wie das Schmuckstück einen weiten Bogen beschrieb, dann mit einem Klatschen auf der Wasseroberfläche aufschlug und binnen einer Sekunde unterging. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Henry am Anfang des Fähranlegers stand. Er zeigte keinerlei Regung.
Ein Schluchzen drängte sich in mir nach oben. Ich kämpfte dagegen an und tatsächlich gelang es mir, es zu unterdrücken.
»Lass uns zu Henry zurückgehen«, sagte David mit flacher Stimme. »Er friert sich wahrscheinlich schon zu Tode.«
Eine knappe Stunde später fiel die Tür meines Appartements hinter mir ins Schloss und ich warf mich auf mein Bett. Die ganze Rückfahrt über hatten wir kaum gesprochen, nur einmal hatte David leise gesagt, dass er Henry den Armreif bezahlen würde. Und Henry hatte darauf mit einem ebenso leisen »Vergiss es!« geantwortet. Ich hatte eisern an mich gehalten und die Tränen unterdrückt, aber jetzt brachen alle Dämme. Ich vergrub meinen Kopf unter dem Kopfkissen und schluchzte hemmungslos drauflos. Der gesamte angestaute Kummer der letzten Tage brach über mich herein wie eine Sturzflut.
Ich weinte, bis keine Tränen mehr kamen, dann wälzte ich mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Irgendwann klopfte es an meiner Tür.
»Was ist?«, rief ich. Meine Stimmbänder hatten sich aus irgendeinem Grund in Reibeisen verwandelt.
»Juli?« Es war Taylor. »Ist alles in Ordnung?«
Mit der flachen Hand rieb ich mir über Wangen und Augen. »Ja.«
»Dein Vater hat mich gebeten, nach dir zu sehen. In einer Viertelstunde gibt es Abendbrot.«
Ich schloss die Augen und atmete drei-, viermal tief durch, bevor ich antwortete: »Ich komme gleich!«
»Gut.«
Taylors Schritte entfernten sich auf dem Gang. Ich blieb noch eine Weile regungslos liegen, dann seufzte ich, quälte mich auf die Füße und ging ins Bad. Aus dem Spiegel blickte mir jemand völlig Fremdes entgegen. Meine Augen waren verquollen und genauso rot wie die von David. Auf Wangen und Hals hatte ich hässliche dunkelrote Flecken und meine Wimperntusche war zu langen schwarzen Streifen verlaufen. Ich stützte beide Hände auf dem Waschbecken ab und starrte mir so lange selbst in die Augen, bis mir
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