Herz aus Glas (German Edition)
mir sagen würde, David sei gestorben.
Genau wie an diesem Abend im Januar. Das Telefon klingelte. Ich stoppte die Musik und nahm ab. Meine Hand zitterte dabei.
»Ja?«
»Er ist aufgewacht!« Ganz ruhig war Henrys Stimme, doch ich konnte hören, dass er erleichtert war.
Meine Knie wurden bei dieser Nachricht so weich, dass ich mich setzen musste. »Gott sei Dank!«
»Er möchte mit dir reden«, sagte Henry. »Warte, ich gebe dich weiter.«
Es dauerte mehrere Sekunden, dann hörte ich Henrys leise Stimme sagen: »Du kannst sprechen, Kumpel!«
»Juli?« Davids Stimme war dünn und schwach. Mir zerriss es das Herz.
»Ich bin hier.« Schlagartig waren meine Augen voller Tränen. »Ich kann kommen, wenn du es möchtest! Ich wäre schon früher gekommen, aber Dad hat mich nicht …«
»Nein!«, flüsterte er.
Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen.
»Du darfst nicht wieder herkommen. Es ist noch nicht vorbei. Du …« Er machte eine lange Pause, dann fügte er hinzu: »Du musst mich vergessen.« Er klang so matt, als sei er kurz davor, ohnmächtig zu werden.
»Wie meinst du das?«, rief ich, aber es war nicht mehr David, der am anderen Ende der Leitung war, sondern wieder Henry.
»Er ist noch ziemlich groggy«, erklärte er mir. »Ich kümmere mich um ihn.«
»Ich möchte kommen.« Ich zerrte an meinen Kopfhörern, die mir hinderlich am Hals herumbaumelten. Mein Vater war plötzlich neben mir und half mir, mich von den Kabeln zu befreien, während ich das Telefon ans andere Ohr nahm.
»Bleib lieber vorerst in Boston«, widersprach Henry. »Bis ich rausgekriegt habe, was in seinem Kopf vorgeht.« Er wartete, ob ich etwas erwidern würde, aber als ich es nicht tat, fügte er fragend hinzu: »Okay, Juli?«
Ich nickte, dann erst begriff ich, dass er das nicht sehen konnte. »Okay«, murmelte ich. Ich wusste nicht, was ich denken sollte.
»Ich halte dich auf dem Laufenden, Ehrenwort!« Und damit legte Henry auf.
Ich starrte auf das Telefon, als hätte es sich soeben in eine Giftschlange verwandelt.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte Dad besorgt.
»Nein«, antwortete ich. »Er ist aufgewacht.«
»Warum siehst du dann aus, als hättest du eben von seinem Tod erfahren?«
Ich setzte mich. Gary Jules schepperte noch immer aus meinen Kopfhörern. Endlich schaltete ich die Musik aus. »Er will mich nicht sehen.«
Danach dauerte es noch Wochen, bis sie David aus dem Krankenhaus entlassen hatten. Henry rief mich weiterhin an und erzählte mir, welche Fortschritte er machte. Ich hörte seiner Stimme an, dass es David nicht gut ging, aber Henry versuchte, seine Sorge zu überspielen und mir weiterhin Optimismus zu vermitteln, wie er es getan hatte, seit wir uns kennengelernt hatten. Mit David selbst wechselte ich nach unserem kurzen Telefonat kein einziges Wort mehr. Er weigerte sich, mit mir zu reden. Egal, was Henry auch versuchte, David behauptete steif und fest, dass es so das Beste sei. Ich müsse ihn vergessen, sagte er.
Ich konnte es nicht fassen, wurde zwischen Wut und Trauer hin und her geschleudert wie ein Pingpongball zwischen zwei Schlägern.
Natürlich konnte ich ihn nicht vergessen. Ich fragte mich immer wieder, was er denn jetzt noch fürchtete. Meine Halluzinationen hatten sich als Manipulation einer Verrückten herausgestellt, oder etwa nicht? Madeleines Geist war nicht mehr als eine Sage. Es gab keinen Fluch. Und trotzdem fürchtete David sich vor irgendetwas so sehr, dass er mich lieber auf Distanz hielt, als mich erneut in Gefahr zu bringen? Ich zermarterte mir den Kopf, was dieses Etwas sein mochte. Und gleichzeitig kam ich fast um vor Sehnsucht nach ihm. Erneut begann ich, Henrys Anrufe zu fürchten, denn in mir wuchs die Angst, dass David noch einmal auf die Klippe gehen würde.
An einem Vormittag im März dann rief Henry mich zu einer völlig ungewöhnlichen Zeit an. Mit klopfendem Herzen nahm ich ab und war darauf vorbereitet zu hören, dass David gesprungen, dass er diesmal wirklich tot war.
Aber Henry sprach nicht von Davids Tod. »Es geht wieder los, Juli«, sagte er. »Ich kriege das nicht allein hin. Du musst kommen. Sofort. David braucht dringend deine Hilfe!«
Meine Antwort war kurz: »Ich komme!« Gleich darauf stürmte ich mit energischen Schritten zu meinem Vater ins Arbeitszimmer. Es war mir egal, dass ich ihn störte.
»Steh auf!«, befahl ich ihm. »Wir müssen nach Vineyard. Sofort!«
Als wir Sorrow diesmal erreichten, war es lange nicht mehr so kalt wie kurz nach
Weitere Kostenlose Bücher