Herz aus Glas (German Edition)
liebt dich nicht!«
Und in diesem Moment geschah alles mit rasender Geschwindigkeit.
Es gab einen lauten Knall. Erst viel später begriff ich, dass es das Gestein gewesen sein musste, dass unter Taylors Gewicht vor Spannung zerborsten war.
Die Klippe, Taylor, alles sackte mehrere Fuß weit ab. Taylor kreischte, ich ebenfalls.
»Nein!«, schrie David, stieß mich von sich und hechtete vor, um Taylor festzuhalten.
Ein unheimliches, nervenzerfetzendes Knirschen ertönte, für einen Sekundenbruchteil hingen Klippe, Taylor und David in der Luft. Staub wallte hoch, legte sich über die Szene, sodass ich kaum noch etwas erkennen konnte. Taylor kreischte erneut. Und im nächsten Moment waren sie und David fort. Etwas klatschte in die Fluten unter uns.
»David!«, brüllte Henry. Wie David zuvor hechtete er nach vorn. Mit dem Bauch prallte er auf dem Rand der Abbruchkante auf, rutschte ein Stück auf den gefährlichen Abgrund zu. »Hab dich!«, ächzte er.
Gerade noch hatte er es geschafft, Davids Hand zu ergreifen.
Unfähig, mich zu bewegen, sah ich mit an, wie sich die Muskeln an seinen Schultern und Armen spannten. Seine Jacke rutschte hoch und für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich ein schwarzes Tattoo auf seinen Rippen erkennen. Ich registrierte es kaum, denn jetzt stöhnte er auf. »Halt dich fest!«, presste er hervor. »Oh Gott!«
Und dann gefror die gesamte Welt rings um mich herum zu Eis.
David fiel. Henry brüllte seinen Schmerz und seine Frustration in den Himmel, wälzte sich fassungslos auf den Rücken und bedeckte seine Augen mit dem Unterarm.
»Nein!«, wimmerte ich.
Eine Staubwolke stieg in die Luft, noch einmal landeten Felsbrocken klatschend in der Flut und mit ihnen …
Ich sank auf die Knie. Unfähig, etwas zu empfinden, robbte ich an die Kante heran. Es war mir völlig egal, ob ich selbst auch noch abstürzen würde oder nicht. Fast blind vor Tränen spähte ich in die tosende Tiefe, streckte die Hand aus. Doch es war zu spät.
Davids Körper lag weit unten auf den Felsen und eine Welle spülte über ihn hinweg.
D ie Musik war laut und betäubend auf meinen Ohren. Ich hörte Gary Jules auf dem neuen Handy, das Dad mir nach unserer Heimkehr wie versprochen gekauft hatte. Gerade lief Mad World und ich summte leise mit. »The dreams in which I'm dying are the best I've ever had.« Meine Augen waren trocken – schon seit einigen Tagen hatte ich nicht mehr geweint, weil einfach keine Tränen mehr in mir waren. Meine Lider fühlten sich an wie aus Sandpapier und sie brannten wie Feuer. Ich war dankbar dafür, denn dieses Gefühl brachte mich David nahe.
Ich stand gerade in der Küche und machte Abendbrot für Dad und mich. Es war Mitte Januar. Zwei Wochen waren vergangen, seit David von der Klippe ins Meer gestürzt war. In dieser Zeit war ich zur Schule gegangen, hatte mich mit meinen Freunden getroffen. Ein, zwei Mal hatte ich mich sogar von ihnen überreden lassen auszugehen. Einmal hatte ich unsere eigene Ausgabe von Rebecca aus dem Regal gezogen und versucht, sie zu lesen, aber ich war unfähig gewesen, mich damit zu befassen. Also hatte ich das Buch in meinem Zimmer in eine Ecke geschleudert, wo es noch immer lag.
Ich hatte kaum gegessen und noch weniger geschlafen. Wenn es mir gelang, einmal für kurze Zeit zur Ruhe zu kommen, träumte ich von David. Dann sah ich ihn wieder in den Wellen liegen, sein Körper wurde vom Meer hin und her gewiegt wie ein kleines Kind von seiner liebevollen Mutter. Und seine Augen, diese schönen Augen mit dem goldenen Ring, blickten leer in den bleigrauen Himmel. In meinen Träumen sah ich mich selbst in einem roten Kleid am Strand stehen. Seltsamerweise träumte ich nie davon, auf den Klippen zu stehen, oder davon, in die Tiefe zu springen. Ich stand immer nur am Strand und starrte sehnsuchtsvoll auf das Meer hinaus, das ihn mir genommen hatte.
Wenn ich aus so einem Traum aufwachte, brauchte ich jedes Mal viele Minuten, um mich selbst davon zu überzeugen, dass er lebte. Im Gegensatz zu Taylor, die bei dem Absturz gestorben und auf Vineyard beerdigt worden war, hatte David überlebt. Er lag im Krankenhaus und man hielt ihn in einem künstlichen Koma, um seinem Körper Gelegenheit zu geben, die schweren Verletzungen zu heilen. Henry telefonierte jeden Tag mit mir, um mich auf dem Laufenden zu halten, wie es ihm ging, und jedes Mal, wenn mein Handy klingelte und mir seine Nummer anzeigte, fürchtete ich ranzugehen. Jedes Mal hatte ich Angst, dass er
Weitere Kostenlose Bücher