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Herz aus Glas (German Edition)

Herz aus Glas (German Edition)

Titel: Herz aus Glas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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waren. Aber damals war ich so sehr auf David konzentriert, dass für mulmige Gefühle einfach kein Platz war.
    Ich überlegte, wie ich es anpacken sollte. »Du hast Henry verboten, ihren Namen zu sagen …«
    »Charlie.« Er sagte es mit großem Schmerz in der Stimme. Genau in diesem Augenblick umrundeten wir einen dieser riesigen Findlinge.
    Und standen am Rand der Klippen.
    Das Meer lag mindestens sechzig, siebzig Meter unter uns. Voller Wut brandete es gegen den Sandstrand und brach sich in schäumenden Wellen.
    Erschrocken fuhr ich zu David herum. Ich muss so entsetzt ausgesehen haben, dass er rasch beide Hände hob.
    »Reg dich ab!«, sagte er. »Ich habe nicht vor, mich hier vor deinen Augen runterzustürzen.« Er heftete den Blick auf den Horizont. Seine Lippen waren weiß und sehr schmal. Eine Weile stand er da, so regungslos wie eine Statue. Dann wies er auf einen Punkt im Wasser, an dem es mehrere Nuancen dunkler war als sonst überall. »Dort draußen ist im 19. Jahrhundert mal ein Schiff auf ein Riff gelaufen und gekentert. Die City of Columbus. Ich dachte, das könnte dich vielleicht interessieren.«
    Ich war völlig durcheinander. Ich konnte den Blick einfach nicht von der Kante der Klippe lassen. Wir standen ungefähr zwanzig Meter davon entfernt. Wenn David also nicht vorhatte loszusprinten, waren wir einigermaßen in Sicherheit. Ich schluckte. Ich glaube, in meinem ganzen Leben zuvor und auch seitdem habe ich mich niemals wieder so unter Strom gefühlt wie in diesem Augenblick. Ich forschte in Davids Miene, um herauszufinden, was er plante, aber es gelang mir nicht, ihn zu durchschauen.
    Nur seine Augen waren jetzt wieder gerötet. Ich redete mir ein, dass es am Wind lag. »Erzähl mir von dem Schiff!«, forderte ich ihn auf.
    »1884 im Januar ist es gesunken. Weil das Meerwasser die Dampfkessel geflutet hatte, konnte der Kapitän nicht um Hilfe pfeifen. Nachdem das Schiff das Riff gerammt hatte, kletterten die Menschen in die Aufbauten, um sich vor dem eisigen Wasser in Sicherheit zu bringen, aber es war Winter, Sturm und eiskalt. Nur die kräftigsten haben es geschafft und wurden gerettet. Alle Frauen und Kinder an Bord sind in den Fluten umgekommen.«
    Endlich schaffte ich es, den Blick von der Kante der Klippe zu lösen und auf die beschriebene Stelle zu richten. Wie in einem Film liefen vor meinem geistigen Auge Bilder von dem ab, was David mir gerade erzählt hatte. Ich sah das Schiff in dem dunklen Wasser liegen, sah, wie die Menschen sich verzweifelt an seinen Aufbauten festklammerten. Der Wind heulte um uns herum und ich glaubte, die verzerrten Schreie der Ertrinkenden zu hören.
    »Juli!« Davids Stimme drang nur undeutlich zu mir durch. Erst als er mich am Ellenbogen packte und festhielt, holte er mich aus meiner Versenkung. Ich wandte mich zu ihm um, schaute in seine erschrockene Miene. Und da erst begriff ich, dass ich wie in Trance mehrere Schritte gemacht hatte. Direkt auf den Abgrund zu.
    Ich blinzelte. Meine Augen brannten jetzt ebenfalls. Ich schlug beide Hände vor den Mund.
    David wirkte schuldbewusst. Ich sah seinen Kehlkopf rucken. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich wollte dich nicht schocken mit dieser Geschichte, ich …«
    »Schon gut.« Langsam ließ ich die Arme sinken. »Erzähl zu Ende!«
    Skeptisch sah er mich an. »Bist du sicher?«
    Ich überlegte. Dann schüttelte ich den Kopf. »Nicht wirklich!«
    Er sah, dass ich mir verstohlen über die Lider wischte, und stieß einen unterdrückten Fluch aus. »Es war idiotisch von mir hierherzukommen!«
    Ich verwünschte meine eigene Rührseligkeit. Immerhin war ich hier, um David zu helfen, da nützte es wohl wenig, wenn ich selbst anfing zu heulen. »Das war es nicht!«, widersprach ich ihm. »Kommst du öfter hierher?«
    Mir grauste bei der Vorstellung, dass er ganz allein hier oben stand und in die Tiefe starrte.
    Er antwortete nicht. Stattdessen sah er mich unglücklich an. »Ich glaube, es ist besser, wir gehen jetzt.« Wir standen nur wenige Meter vom Rand der Klippe entfernt. Er trat einen Schritt vor.
    Unwillkürlich packte ich ihn am Arm. »David!«
    Er blieb stehen. Der Felsen unter unseren Füßen knisterte bedrohlich und wir wichen zurück. Die Kante zu unseren Füßen sah frisch aus – so, als sei sie vor Kurzem erst abgebrochen. Mein Blick wanderte zu der schäumenden Brandung in die Tiefe. Ich konnte nicht anders, ich musste es fragen. »Das hier …« Ich räusperte mich. Vor lauter Angst krampfte sich mein

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