Herz aus Glas (German Edition)
»Sie ist von den Gay-Head-Klippen gestürzt.«
Ich fühlte mich, als hätte der eisige Wind plötzlich ausgesetzt und mich an einen Ort versetzt, an dem es weder Wärme noch Geräusche gab. Für ein paar Sekunden lang hörte ich nichts weiter als das Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren.
»Wolltest du mit mir dort hin?«, fragte ich leise.
Er schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben sollte.
»Danke«, sagte er. »Dafür, wie du meinem Vater eben die Stirn geboten hast.«
Ich runzelte genau diese Stirn und dachte an das, was er gesagt hatte.
Charlie war von den Gay-Head-Klippen in den Tod gestürzt.
»Hoffentlich war das kein Fehler!«, murmelte ich.
W ir durchquerten einen kleinen Wald, der mitten auf der Ebene stand wie ein Büschel Haare, das man vergessen hatte abzurasieren. Dahinter erstreckte sich die Landschaft mit niedrigem Gestrüpp und Heidekraut. Ein paar Kaninchen hoppelten vor uns über den Weg. Die Möwen hatten sich verzogen und so war, außer dem Rauschen der Brandung, kein einziges Geräusch zu hören.
»Es muss dich total ankotzen«, sagte ich nach einer Weile. So langsam bekam ich Routine darin, die Nervensäge zu spielen. Wenn man es nur lange genug tat, stellte ich fest, wurde es immer leichter. »Dass alle dich wie ein Kind behandeln, meine ich.«
Ich zählte die Schritte, die wir machten, bevor David mir antwortete. Es waren genau zwanzig.
»Vielleicht liegt es daran, dass ich mich kürzlich wie ein Kind benommen habe.«
Ich zögerte. Doch dann beschloss ich, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Hast du tatsächlich versucht, dich … umzubringen?«
Im Gehen hob er eine Augenbraue. »Das haben sie dir erzählt, oder?«
Ich nickte.
Wieder biss er die Zähne zusammen. »Sie haben mich von der Klippe geholt, von der sie … gestürzt ist.« Ich stolperte über dieses sonderbare Zögern in seinen Worten.
Wir kamen an eine Weggabelung. Rechter Hand führte der Pfad in Schlangenlinien einen kleinen Hügel hinab. Links ging es leicht aufwärts. David hielt kurz inne, dann entschied er sich für den linken Weg. Ungefähr zehn Minuten gingen wir schweigend nebeneinanderher. Ich gab mir Mühe, die Stille zwischen uns auszuhalten, und lenkte mich damit ab, David von der Seite her zu betrachten.
Er war fast einen Kopf größer als ich. Sein Gesicht hatte etwas Spitzes, wie es wohl normal für jemanden war, der gerade ziemlich viel abgenommen hatte. Die Schatten unter seinen Augen waren jetzt weniger schwarz, aber man konnte sie noch deutlich erkennen.
»Wolltest du springen?«, fragte ich nach einer gefühlten Ewigkeit.
Er schüttelte den Kopf und irgendwie erleichterte mich das. »Die Wahrheit ist, dass ich hochgestiegen bin, um es zu tun.« Er erschauderte bei diesen Worten so tief, dass ich es sehen konnte. Spontan fragte ich mich, was für ein Gedanke ihm dabei wohl durch den Kopf ging. »Aber als ich dort oben stand …« Er hob die Schultern. »Ich konnte es nicht.« Ein bitteres Lachen kam über seine Lippen. »Und weißt du, was mich verrückt macht?«
Ich verneinte.
Er brach einen Zweig von einem Busch ab und betrachtete ihn im Gehen. »Dass ich das Gefühl habe, mein Vater hält mich genau deshalb für einen Feigling.«
Ich blieb mit einem Ruck stehen. »Das darfst du nicht denken!«, rief ich aus, aber gleichzeitig fiel mir ein, wie Jason gestern über das Thema Depressionen geredet hatte.
David lachte erneut. Das Geräusch versetzte meinem Herzen einen Hieb und es fühlte sich schon wieder an, als wäre es aus Glas.
Er warf den Zweig fort und Seite an Seite gingen wir weiter. Ich überlegte, was ich über Charlie wusste, und stellte fest, dass es so gut wie nichts war. Sie war tot. Und sie war von den Klippen gestürzt. Das war es dann auch schon. Fieberhaft überlegte ich, was ich jetzt sagen sollte. Wie gewöhnlich, wenn ich nicht weiterwusste, entschied ich mich für schonungslose Offenheit.
»David«, sagte ich. »Ich habe keinen blassen Schimmer, wie man mit jemandem umgeht, der kürzlich seine Verlobte verloren hat, also musst du mir helfen, okay?«
David zog die Schultern hoch. Im ersten Moment wirkte er abweisend, aber dann erinnerte er sich offenbar daran, dass er mir versprochen hatte, an diesem Tag etwas netter zu sein. »Wie?«, fragte er.
Der Weg stieg jetzt steiler an und langsam geriet ich außer Atem. Heute frage ich mich manchmal, warum ich mir nicht bereits zu diesem Zeitpunkt Gedanken darüber machte, wohin wir unterwegs
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