Herz dder Pflicht
er sich ihr als der Gentleman von Stand und Namen nähern konnte, der er war. Was würde sie aber von einem Mann denken, der konsequent alle Menschen um sich herum belogen hatte, wenn auch aus guten Gründen? Wie hohl musste sein Gerede über Ehre für sie klingen, wenn sie die Wahrheit erfuhr.
6. KAPITEL
„Ich hasse es, den ganzen Spaß zu versäumen“, sagte Jack ärgerlich, nachdem sie das Abendbrot beendet hatten. „Als Papa noch lebte, durfte die Kinderfrau mich zum oberen Ende der Treppe bringen, von wo ich das Eintreffen der Gäste sehen konnte. Außerdem pflegte er etwas von den guten Speisen heraufzuschicken, während wir heute Abend lediglich Überreste vom Mittagessen bekommen haben.“
„Ich dachte, dir wäre dieser gesellschaftlich Trubel zuwider“, erwiderte Richard und blickte von seiner Lektüre auf.
„Es gefällt mir nicht, ausgeschlossen zu werden“, brummte Jack. Er machte Anstalten, seine Beschwerde fortzusetzen, als es an die Tür klopfte. Er rief „Herein“, und als er sah, dass es sich bei dem Besucher um Pandora handelte, stellte er ungnädig fest: „Ach du bist es nur. Was willst du hier?“
Richard legte das Buch weg und erhob sich. „Miss Compton“, sagte er mit ernster Miene. „Was können wir für Sie tun?“
„Es geht darum, was ich für euch tun kann“, antwortete sie in ihrem liebenswürdigsten Ton und brachte eine Schale mit Schokoladengebäck zum Vorschein.
„Du bist großartig“, rief Jack. „Alle anderen haben uns vergessen.“
„Nicht ganz“, erwiderte Pandora. „Mrs. Rimmington hat das Gebäck herausgeschmuggelt, weil sie Anweisung erhielt, dass es im Schulzimmer während der Anwesenheit der Gäste nur einfaches Essen gibt, und diese Regelung unfair fand. Da ich beschlossen hatte, euch meine Ballrobe zu zeigen, bot ich ihr an, die Platte für sie nach oben zu bringen.“
Sie sah bezaubernd aus in ihrem hellgrünen Kleid mit hoher Taille, das mit cremefarbener Spitze besetzt war. Ein paar zartgelbe Nelken, die aus dem verwilderten Garten stammten, waren in Form einer Krone in ihre Haare eingeflochten. Pandora trug keinen Schmuck – er war ihren Bemühungen, das Gut vor dem Ruin zu retten, zum Opfer gefallen. Ihre Slipper waren aus cremefarbenem Leder. In der Hand hielt sie einen kleinen, altmodischen und sehr hübschen Fächer mit Elfenbeingriff.
„William behauptet, ich böte einen armseligen Anblick“, sagte sie. „Aber ich weigere mich, die furchtbaren Sachen zu tragen, die er mir gegeben hat, weil ich darin aussehe wie eine Frau von zweifelhaftem Ruf, die versucht, respektabel zu wirken.“
„Du siehst großartig aus, Pandora“, versicherte Jack. „Am besten gefällst du mir natürlich in deinem blauen Reitkostüm, doch das wäre für einen Ball wohl kaum passend.“
Seine Schwester und Richard brachen gleichzeitig in Gelächter aus.
„Was denken Sie, Mr. Ritchie?“, fragte Pandora, nachdem sie sich wieder gefasst hatte. „Sollte ich besser eines von Williams Schreckensgewändern anziehen?“
Nach dem, was am Nachmittag zwischen ihnen vorgefallen war, beschloss Richard, ganz sachlich zu antworten. „Ich finde Sie sehr elegant“, erklärte er. „Indes mag ich es ohnehin, wenn Damen sich zurückhaltend kleiden. Federn und Rüschen üben auf mich keine Anziehungskraft aus.“
„Oh, wie schön“, rief Pandora. „Wir haben den gleichen Geschmack. Doch jetzt muss ich mich sputen. Übrigens lässt Tante Em euch beiden Grüße ausrichten.“
Mit einem hübschen Wirbeln und Rauschen der Röcke verließ sie den Raum.
Jack streckte zögernd die Hand nach dem Gebäck aus. „Darf ich, Mr. Ritchie?“
„Selbstverständlich. Du hast großes Glück, eine solche Schwester zu haben, Jack.“
„Das weiß ich. Es ist ein Jammer, dass sie nicht mit uns im Schulzimmer leben kann. Wir könnten so viel Spaß haben.
Bedienen Sie sich, Mr. Ritchie, bevor ich alles aufesse. Ich bin sicher, Pandora wünscht, dass Sie Ihren Anteil bekommen.“
Die Nacht blieb nicht so klar, wie es zu Anfang geschienen hatte. Immer wieder wurde der Mond von Wolken verdeckt und warf ein unbeständiges Licht über das Land. Richard erreichte den Rand der Klippen und suchte sich einen Platz, von dem aus er Baxter’s Bay und das Meer überblicken konnte.
Er hatte das Haus über die Hintertreppe verlassen. Es war warm, und alle Glastüren und Fenster standen offen, so dass er die Musik, die aus dem Ballsaal drang, noch hörte, bis er den verwahrlosten Teil des
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