Herz dder Pflicht
imstande sein müssten, die Dinge zu verstehen, das nicht können?“
Pandora erwiderte langsam: „Ich nehme an, dass ich mit Tante Em, Jack und einem kranken Großvater als einziger Gesellschaft immer viel Zeit mit Lesen und Nachdenken verbracht habe. Allerdings bin ich mir sicher, dass Sie meine Fähigkeiten, etwas zu verstehen, überschätzen.“
Richard war anderer Meinung, widersprach ihr jedoch nicht. Sie waren lange genug allein gewesen und würden, wenn sie Pech hatten, bald entdeckt werden, mochte ihr Gespräch auch noch so harmlos sein.
Der gleiche Gedanke schien Pandora durch den Kopf geschossen zu sein. „Ich denke, wir sollten uns jetzt trennen“, sagte sie. „Da wir uns so brav benommen haben, wäre es schade, wenn jemand vorbeikäme und etwas anderes annähme.“
„Einverstanden, aber erlauben Sie mir, ein bisschen frech zu sein.“ Richard ergriff ihre Hand und küsste sie. „Und träumen Sie nicht von dunklen Rächern oder anderen Geistern. Sie sind nur Fantasiegebilde, und Sie dürfen nicht zulassen, von ihnen gejagt zu werden.“
„Das werde ich nicht“, versicherte Pandora. „Bevor wir uns allerdings trennen, erlauben Sie mir, Ihre Gunst zu erwidern.“ Sie nahm seine Hand und küsste den Handrücken.
Diese Geste erwies sich als verhängnisvoll. Richard handelte, ohne nachzudenken, beugte sich vor und küsste sie heiß und leidenschaftlich auf die Lippen. Es war der Kuss eines Kriegers, der seine Frau gefunden hatte und verhindern wollte, dass jemand anderes Anspruch auf sie erhob.
Pandora reagierte so, wie es die Gefährtin eines Kriegers tun sollte, leidenschaftlich und fordernd wie er, Mund an Mund, Körper an Körper gepresst. Zeit und Raum verschwanden, Vorsicht, Selbstkontrolle und Konvention ebenfalls. Was geschehen wäre, wenn nicht von oben Lärm und das Geräusch sich nähernder Schritte an ihr Ohr gedrungen wäre, wusste Richard nicht. Es war eine Frage, die er sich nicht zu beantworten wagte.
Sie lösten sich so schnell voneinander, wie sie zusammengekommen waren. „Oje“, rief Pandora und hastete auf den Korridor zu, der zu ihrem Zimmer führte. Nichts von dem, was bisher zwischen ihr und Richard geschehen war, hatte auch nur entfernt Ähnlichkeit mit der Leidenschaft, von der sie beide soeben beinahe übermannt worden waren.
Für einen verrückten Augenblick kämpfte Richard mit der Versuchung, hinter Pandora herzulaufen und sie festzuhalten. Gerade noch rechtzeitig kam er zur Vernunft und blieb stehen. Er wartete darauf, dass die Schritte näher kamen, und wich zurück, um den Herunterkommenden vorbeizulassen.
Es war einer der Diener von Sir John, der Geschirr nach unten brachte. Richard nickte ihm kurz zu und eilte die Stufen hinauf … weg von Pandora, von der Versuchung, und hin zu Pflicht und Ehre.
10. KAPITEL
Als Pandora am nächsten Nachmittag ins Schulzimmer kam, fand sie es leer. Sie hoffte, dass sich Richard und Jack nicht entschlossen hatten, ohne sie auszureiten, gelangte indes schnell zu dem Schluss, dass Richard nicht darauf verzichtet hätte, sie zu einem Ausflug einzuladen, bei dem sie abgesehen von Jack und einem Reitknecht allein gewesen wären.
Pandora wusste, dass Richard und Jack nachmittags häufig Kricket spielten. Neuerdings baten sie auch Rob, einen weiteren Knecht und den Küchenjungen hinzu, damit das Spiel für Jack interessanter war. Ehe sie nach unten ging, um festzustellen, ob sie mit ihrer Vermutung richtiglag, schaute sie sich im Schulzimmer um, das völlig anders aussah als zu Mr. Suttons Zeiten.
Jacks Lehrbücher stapelten sich vor seinem Stuhl auf dem Tisch, mit einem Stift, zwei sorgfältig gespitzten Federkielen und einem Tintenfass daneben. Richards Bücher und Schreibutensilien befanden sich auf der anderen Seite des Tisches. Seine Brille lag auf einem aufgeschlagenen Buch. Pandora nahm sie aus purer Neugier in die Hand und setzte sie auf. Zu ihrer Überraschung sah sie alles völlig klar, anders als durch die Brille ihres Großvaters, die sie einmal als Kind aufprobiert hatte. Das konnte nur bedeuten, dass es sich um einfaches Glas handelte und Richard gar keine Brille benötigte.
Warum trug er sie also? Pandora fand keine logische Erklärung dafür. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass das nicht das einzige Seltsame an Richards Benehmen war. Da gab es zum Beispiel seine plötzlichen Reitkünste, nachdem er sich zunächst wie ein Neuling auf einem Pferderücken gezeigt hatte. Und sein bemerkenswertes Talent, alle
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