Herz dder Pflicht
vorgegeben hatte, nicht reiten zu können? Am Morgen, nachdem William von Nero beinahe zu Tode getrampelt worden war, hatte sie George zu Bragg sagen hören, dass so etwas nur ein Meisterreiter hätte schaffen können. Falls Richard tatsächlich ein solcher Könner auf dem Pferderücken war, wäre das nicht seine einzige Täuschung gewesen. Zum Beispiel trug er eine Brille, die er nicht wirklich benötigte. Das wirkliche Rätsel indes – falls ihr Verdacht sich als richtig erwies – bestand in der Frage, warum er es für notwendig erachtet hatte, alle, Sir John eingeschlossen, hinters Licht zu führen.
Pandora schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären. Sie musste sich täuschen, wenn sie tatsächlich glaubte, Richard wäre nicht der, der er zu sein schien – ein guter, ruhiger Gelehrter. Er hatte Freude in Jacks Leben und Liebe in das ihre gebracht.
Tante Em saß im Salon, wie immer mit einer Stickerei beschäftigt. Offenbar wusste sie über alles, was im Haus vor sich ging, genau Bescheid. Nach einem Blick auf Pandora fragte sie: „Ist mit dir alles in Ordnung, Liebes? Du siehst blasser aus als gewöhnlich.“
„Oh, es ist alles in Ordnung, Tante. Allerdings war ich gerade im Schulzimmer und habe Grund zu der Annahme, dass mein älterer Bruder Mr. Ritchie erneut sehr schlecht behandelt hat. Wir werden ihn verlieren, wenn William nicht vorsichtiger ist, und das wäre verheerend für Jack.“
Die Tante ließ ihre Nadelarbeit sinken. „Da stimme ich dir zu, Liebes. Ein wertvoller junger Mann, und wir können froh sein, ihn zu haben. Sogar die Dienstboten mögen ihn, besonders seit er William das Leben gerettet hat. Ich sage es nur ungern, aber dein Halbbruder ist sehr undankbar, wenn er wieder angefangen hat, Mr. Ritchie zu beleidigen.“
Am Abend hatte Tante Em noch mehr Grund, ärgerlich zu sein. Als sich alle zum Dinner setzten – es war eines der Abendessen, zu denen Richard und Jack eingeladen waren –, begann William unverzüglich, Richard wegen seines Erscheinungsbildes zu verspotten. Als sie sah, dass der Hauslehrer bei Williams Wortschwall demütig den Kopf über seinen Teller beugte, rief sie: „Mein Junge, ich muss dich doch sehr bitten, den armen Mr. Ritchie nicht zu beschimpfen. Sein Verhalten ist ohne Fehl und Tadel.“
William, den dieser Angriff ärgerte, weil er lediglich Richards Anweisungen befolgte, fauchte: „Es ist nicht sein Verhalten, das ich kritisiere, Tante, sondern seine Garderobe.“
„Das ist bereits das zweite Mal, dass du ihm seine Kleidung vorwirfst“, gab Tante Em zornig zurück. „Die Lösung wäre, dass du seinen Lohn erhöhst, wenn du ihn eleganter haben willst. Und jetzt genug davon, oder ich lasse mir das Essen in meinem Zimmer servieren.“
William wusste nicht, wen er zorniger anfunkeln sollte, Richard, der ihn in diese peinliche Lage gebracht hatte, oder Tante Em, die den vermeintlichen Hauslehrer so heftig verteidigte.
„Du weißt, dass ich ihm nicht mehr bezahlen kann“, murmelte er schließlich.
„Wenn das so ist, solltest du den Mund halten.“
Richard hatte das Gefühl, der unglücklichste Mensch am Tisch zu sein. William war scharlachrot im Gesicht, Tante Em verärgert, Jack widerborstig und Pandora sah niedergeschlagen aus. Er selbst empfand eine unsägliche Beschämung darüber, dass sein Versuch, William zu retten, eine solche Verwirrung stiftete.
Der Rest der Mahlzeit verlief in eisigem Schweigen. Am Ende erhob William sich und verkündete: „Ich würde gern ein paar private Worte mit dir sprechen, Pandora.“
Sein höfliches Benehmen bewirkte, dass alle an der Tafel, besonders aber seine Halbschwester, ihn ungläubig anblickten.
„Selbstverständlich, William“, willigte sie ein. „Ich werde dich begleiten.“
„Sehr gut“, erwiderte er mit einer kleinen Verbeugung, die zur Folge hatte, dass Pandora ihn umso misstrauischer musterte und Jack lachte.
„Trinken Sie den Tee zusammen mit mir im Salon“, forderte Tante Em Richard auf. „Ich werde versuchen, Ihnen zu beweisen, dass zumindest einige Mitglieder der Familie Compton über ein Minimum an guter Erziehung verfügen. Jack wird uns begleiten. Er sollte etwas über die Feinheiten des Lebens lernen.“
„Sehr wahr“, stimmte Richard zu. Er war erleichtert, die Menschen um ihn herum zumindest für kurze Zeit nicht täuschen zu müssen.
Im Salon begann Tante Em unverzüglich, ihn nach seiner Familie auszufragen. Er antwortete ihr, indem er die einzelnen Mitglieder
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