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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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rücksichtslose Akt war in Wirklichkeit ein Fall von legitimer Selbstverteidigung.
     Man kann unmöglich beim Schlafen, beim Wachen und beim Essen totes Flußpferd atmen, ohne Gefahr zu laufen, die gefährdete
     Herrschaft über sein Dasein zu verlieren. Außerdem bekamen sie jede Woche drei Stück Messingdraht à circa neun Zoll Länge,
     und der Theorie nach sollten sie sich mit dieser Währung in den Dörfern entlang des Flusses Vorräte kaufen. Ihr seht ja, wie
     glänzend das klappte. Entweder gab es keine Dörfer oder die Bewohner waren feindlich gesinnt oder der Manager, der sich, wie
     wir alle, aus Konservenbüchsen ernährte, dazu ab und zu ein Stück Fleisch von einem alten Ziegenbock, weigerte sich aus mehr
     oder weniger abstrusen Gründen, den Dampfer anhalten zu lassen. Wenn sie also den Draht nicht selbst verschluckten oder ihn
     zu Schlingen bogen, um damit Fische zu fangen, weiß |70| ich nicht, wozu ihnen dieser üppige Lohn hätte nützen sollen. Wenigstens wurde er ihnen stets mit der Pünktlichkeit ausgezahlt,
     die sich für eine große und ehrbare Handelsgesellschaft ziemt. Ansonsten war das einzige, was sie zu essen hatten, soweit
     ich sah – auch wenn es für mich nicht im geringsten eßbar aussah   –, ein paar Klumpen einer schmutzig violetten Masse, eine Art halbgarer Teig, den sie in Blätter eingewickelt aufbewahrten
     und von dem sie ab und zu ein Stück herunterschluckten, allerdings so wenig, daß ich das Gefühl hatte, sie täten es mehr wegen
     des Scheins als aus Gründen ernsthafter Nahrungsaufnahme. Warum im Namen aller nagenden Hungerteufel sie nicht über uns herfielen
     – sie waren dreißig zu fünf   –, um sich einmal richtig satt zu essen, wundert mich heute noch. Es waren große starke Männer – ohne nennenswerte Fähigkeit,
     die Folgen einer Tat abzuschätzen – voller Mut, voller Kraft, selbst jetzt noch, da ihre Haut nicht mehr glänzte und ihre
     Muskeln nicht mehr hart waren. Ich spürte, daß hier irgend etwas im Spiel war, das sie zur Selbstbeherrschung zwang, eins
     jener menschlichen Rätsel, die aller Wahrscheinlichkeit trotzen. Auf einmal betrachtete ich sie mit jäh erwachtem Interesse
     – nicht, weil ich fürchtete, über kurz oder lang von ihnen verspeist zu werden, obwohl ich gestehen muß, daß mir in diesem
     Moment – in einem neuen Licht sozusagen – auffiel, wie ungesund die Pilger wirkten, und ich hoffte, ja, ich hoffte wirklich,
     daß ich nicht so – wie soll ich sagen? – so unappetitlich aussah: eine Spur grotesker Eitelkeit, die sehr gut zu dem Traumgefühl
     paßte, das zu jener Zeit all meine Tage erfüllte. Vielleicht hatte ich auch ein wenig Fieber. Man kann nicht immer mit dem
     Finger am Puls leben. Ich hatte oft ›ein wenig Fieber‹ oder einen Anflug von anderen Dingen – zärtliche Tatzenhiebe der Wildnis,
     das Vorgeplänkel eines ernsteren Ausbruchs, der zu gegebener Zeit kam. Ja – ich betrachtete sie wie jeden anderen Menschen
     auch, voll Neugier hinsichtlich |71| seiner Impulse, Triebkräfte, Fähigkeiten, Schwächen, wenn er auf dem Prüfstand einer unerbittlichen physischen Notwendigkeit
     steht. Selbstbeherrschung! Welche Art von Selbstbeherrschung? War es Aberglaube, Ekel, Geduld, Angst – oder eine Art von primitivem
     Ehrgefühl? Keine Angst kann dem Hunger widerstehen, keine Geduld ist stärker, Ekel gibt es nicht, wo Hunger ist, und was Aberglaube
     angeht, Religion oder das, was ihr Prinzipien nennt, sie sind wie Spreu im Wind. Kennt ihr die Teufelei schleichenden Hungerns
     nicht, die wütenden Qualen, die schwarzen Gedanken, die dunkle, brütende Grausamkeit? Ich kenne sie. Ein Mann bedarf all seiner
     angeborenen Stärke, um gegen den Hunger anzukämpfen. Es ist wirklich leichter, Trauer, Schande und die Verdammnis der Seele
     zu ertragen – als diese Art fortwährenden Hunger. Traurig, aber wahr. Und dabei hatten die Burschen keinen irdischen Grund
     für irgendwelche Skrupel. Selbstbeherrschung! Ebensogut hätte ich Selbstbeherrschung von einer Hyäne erwartet, die zwischen
     Leichen auf einem Schlachtfeld herumstreift. Aber hier hatte ich die Tatsache vor Augen – die Tatsache, unübersehbar, blendend
     wie Meerschaum über den Tiefen des Wassers, wie kleine Wellen über einem unergründlichen Rätsel, einem Geheimnis, das – als
     ich darüber nachdachte – noch größer war als der seltsame, unerklärliche Ton tiefster Verzweiflung in dem wilden Geschrei,
     das über uns hinweggefegt war,

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