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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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Lektüre zu beenden war für mich, als risse ich mich aus dem Schutz einer alten und festen Freundschaft
     los.
    Ich brachte die lahme Maschine in Gang. ›Das muß dieser elende Händler sein – dieser Eindringling‹, rief der Manager und blickte
     haßerfüllt zu dem Ort zurück, den wir eben verlassen hatten. ›Er muß Engländer sein‹, sagte ich. ›Das schützt ihn nicht davor,
     in Schwierigkeiten zu geraten, wenn er nicht vorsichtig ist‹, murmelte der Manager finster. Mit gespielter Unschuld bemerkte
     ich, kein Mensch auf dieser Welt sei vor Schwierigkeiten sicher.
    Die Strömung war jetzt stärker, und der Dampfer schien aus dem letzten Loch zu pfeifen, das Heckrad plätscherte schleppend,
     und ich ertappte mich dabei, wie ich mit gespitzten Ohren auf das Klatschen der nächsten Schaufel lauschte, denn die nüchterne
     Wahrheit war, ich rechnete jeden Augenblick damit, daß das vermaledeite Ding den Geist aufgab. Es war, als sähe ich dem letzten
     Aufflackern eines Lebens zu. Doch wir krochen weiter. Manchmal suchte ich mir einen Baum ein Stück weiter oben, um unseren
     Fortschritt in Richtung Kurtz zu messen, aber bis wir auf der Höhe ankamen, hatte ich ihn jedesmal aus den Augen verloren.
     Den Blick so lange auf einen Gegenstand zu konzentrieren, übersteigt die menschliche Geduld. Der Manager stellte wunderschöne
     Resignation zur Schau. Ich dagegen kochte vor Wut und begann, mit mir selbst zu streiten, ob ich offen mit Kurtz reden würde
     oder nicht, doch bevor ich zu einem Schluß kam, wurde mir klar, daß meine Worte oder mein Schweigen, ja, jede Handlung meinerseits
     vollkommen unerheblich waren. Welche Rolle spielte es, was einer wußte und was nicht? Welche Rolle spielte es, wer Manager
     war? Manchmal hat man so eine Erleuchtung. Das |66| Wesen dieser Affäre lag tief unter der Oberfläche verborgen, außerhalb meiner Reichweite und außerhalb meiner Möglichkeit,
     mich einzumischen.
    Gegen Abend des zweiten Tages waren wir nach unserer Schätzung noch ungefähr acht Meilen von Kurtz’ Station entfernt. Ich
     drängte zum Weiterfahren, doch der Manager machte ein ernstes Gesicht und erklärte mir, dort oben zu navigieren sei so gefährlich,
     daß es ratsam sei, da die Sonne schon niedrig stand, bis zum nächsten Morgen an der Stelle zu warten, an der wir uns befänden.
     Zudem wies er mich darauf hin, daß wir uns, wenn wir die Warnung, uns vorsichtig zu nähern, befolgen wollten, bei Tageslicht
     nähern müßten – nicht in der Dämmerung oder der Dunkelheit. Das klang nur vernünftig. Acht Meilen bedeuteten für uns fast
     drei Stunden unter Dampf, und außerdem sah ich ein verdächtiges Kräuseln am oberen Ende der Wasserstrecke. Trotzdem ärgerte
     ich mich über die Verspätung maßlos und äußerst unvernünftiger Weise, denn nach so vielen Monaten konnte eine Nacht mehr oder
     weniger keine Rolle mehr spielen. Da wir reichlich Brennholz hatten und Vorsicht geraten war, ankerte ich in der Mitte des
     Stroms. Die Strecke war schmal, gerade und hatte hohe Ufer wie ein Eisenbahneinschnitt. Lange bevor die Sonne untergegangen
     war, kroch die Dämmerung herein. Die Strömung war stark und gleichmäßig, nur an den Ufern brütete tumbe Reglosigkeit. Die
     lebenden Bäume, durch Schlingpflanzen und jeden lebenden Busch im Unterholz miteinander verwachsen, hätten genausogut Stein
     sein können, bis in das dünnste Zweiglein, das kleinste Blättchen. Es war nicht Schlaf – es wirkte unnatürlich, wie ein Trancezustand.
     Nicht der geringste Laut war zu hören. Verwundert sah man zu und befürchtete schon, taub zu sein – dann brach plötzlich die
     Nacht herein und machte einen auch noch blind. Etwa um drei Uhr morgens sprang ein großer Fisch, und das laute Platschen erschreckte |67| mich, als hätte jemand geschossen. Bei Sonnenaufgang hing über allem weißer Nebel, sehr warm und feucht, und machte uns noch
     blinder als die Nacht. Er stieg nicht, riß nicht auf, er war einfach nur da, hüllte uns ein wie eine feste Masse. Gegen acht
     oder neun hob er sich plötzlich wie ein Rolladen. Wir konnten einen Blick auf die gewaltige Fülle der Bäume werfen, den ungeheuren
     verfilzten Urwald und die Sonne, die darüber hing wie ein kleiner gleißender Ball – alles vollkommen still – und dann schob
     sich der weiße Rolladen wieder herunter, so sanft, als liefe er in geölten Schienen. Ich befahl, die Ankerkette, die wir einzuholen
     begonnen hatten, wieder abzurollen. Und

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