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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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noch bevor sie mit gedämpftem Rasseln zum Stillstand kam, stieg in der milchigen Luft
     langsam ein Schrei auf, ein sehr lauter Schrei wie aus höchster Verzweiflung. Er verklang. Dann füllte ein lautes Klagen,
     ein Chor wilder Mißklänge, unsere Ohren. Vor schierer Überraschung stellten sich mir unter der Mütze die Haare auf. Ich weiß
     nicht, wie es die anderen erwischte, aber auf mich wirkte es, als hätte der Nebel selbst geschrien, so plötzlich und scheinbar
     von überall gleichzeitig hatte sich der heftige, kummervolle Lärm erhoben. Er gipfelte im überstürzten Ausbruch eines fast
     unerträglich gellenden Gekreischs, das plötzlich abbrach und uns in unterschiedlichen grotesk verkrampften Haltungen zurückließ,
     in denen wir hartnäckig der fast ebenso entsetzlichen und gellenden Stille lauschten. ›Guter Gott! Was hat das zu bedeuten   ... ‹, stammelte einer der Pilger neben mir, ein dicker kleiner Mann mit sandfarbenem Haar und rotem Backenbart, Gummizügen
     an den Stiefeln, die rosa Pluderhosen in die Socken gestopft. Zwei weitere standen eine volle Minute mit offenem Mund da,
     dann preschten sie in die kleine Kabine, um schnurstracks wieder herauszukommen und, jeder eine schußbereite Winchester im
     Anschlag, ängstliche Blicke ringsum zu werfen. Alles, was wir sahen, war der Dampfer, auf dem wir |68| uns befanden, seine Konturen so verschwommen, als löste er sich eben auf, und ein dunstiger Streifen Wasser von vielleicht
     zwei Fuß Breite – mehr nicht. Der Rest der Welt war nirgendwo, was unsere Augen und unsere Ohren anging. Nirgendwo. Fort,
     verschwunden, weggefegt, ohne auch nur ein Flüstern oder einen Schatten zurückzulassen.
    Ich ging nach vorn und befahl, die Ankerkette kurz einzuziehen, so daß wir, falls nötig, jederzeit bereit waren, den Anker
     zu lichten und den Dampfer in Bewegung zu setzen. ›Werden sie angreifen?‹ flüsterte eine furchtsame Stimme. ›Wir werden hier
     alle abgeschlachtet in diesem Nebel‹, murmelte eine zweite. Die Gesichter der Männer zuckten vor Anspannung, die Hände zitterten
     leicht, die Augen vergaßen zu blinzeln. Sehr merkwürdig war der Unterschied zwischen den Mienen der weißen Männer und denen
     der schwarzen Kerle unserer Mannschaft, die auf diesem Teil des Flusses ebenso Fremde waren wie wir, wenn auch nur achthundert
     Meilen von ihrer Heimat entfernt. Die Weißen waren natürlich vollkommen fassungslos, aber überdies schienen sie auf seltsame
     Weise schmerzlich empört über das anstößige Spektakel. Die anderen zeigten einen wachsamen, natürlich interessierten Ausdruck,
     doch ihre Gesichter waren in sich ruhig, selbst bei den ein, zwei, die beim Ketteneinholen grinsten. Einige wechselten kurze,
     gegrunzte Sätze, mit denen sie die Begebenheit anscheinend zu ihrer Zufriedenheit einordneten. Ihr Anführer stand in meiner
     Nähe, ein junger Schwarzer mit breiter Brust, üppig umhüllt von dunkelblauen Fransenstoffen, mit geblähten Nasenlöchern und
     einer kunstvollen Frisur aus öligen Kringeln. ›Aha‹, sagte ich, um der Geselligkeit willen. ›Schnappt se‹, zischte er, seine
     großen Augen, blutunterlaufen, und die spitzen Zähne blitzten auf. ›Schnappt se. Gebt se uns.‹ ›Euch geben, he?‹ fragte ich.
     ›Und was würdet ihr mit ihnen machen?‹ ›Se essen!‹ sagte er schroff; dann stützte er sich |69| mit dem Ellbogen auf die Reling und blickte hinaus in den Nebel, hoheitsvoll und tief in Gedanken versunken. Wahrscheinlich
     wäre ich höchst schockiert gewesen, wenn mir nicht eingefallen wäre, daß er und seine Kameraden großen Hunger haben mußten,
     ja, daß – zumindest während des letzten Monats – ihr Hunger stetig gewachsen sein mußte. Sie hatten für sechs Monate angeheuert
     (ich glaube nicht, daß einer von ihnen einen klaren Begriff von Zeit hatte, so wie wir ihn am Ende etlicher Jahrhunderte haben;
     sie gehörten noch zu den Anfängen der Zeit – hatten sozusagen keine ererbte Erfahrung, aus der sie lernen konnten), und da
     auf dem Papier alles mit irgendeinem absurden Gesetz im Einklang stand, das man flußabwärts erlassen hatte, war natürlich
     niemand auf die Idee gekommen zu fragen, wovon sie sich ernähren würden. Nun hatten sie sich zwar einen Vorrat faulendes Flußpferdfleisch
     mitgebracht, doch es hätte vermutlich selbst dann nicht lange gereicht, wenn die Pilger nicht einen großen Teil davon holterdipolter
     über Bord geworfen hätten. Dieser scheinbar

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