Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
Vom Netzwerk:
verschwand, ein kleiner weißer Rauch
     löste sich auf, ein winziges Geschoß gab ein leises Pfeifen von sich – und nichts geschah. Es konnte nichts geschehen. In
     der Unternehmung lag eine Spur von Wahnsinn, in ihrem Anblick ein Hauch von kläglicher Komik; und diese Wahrnehmung wurde
     auch nicht zerstreut, als mir jemand an Bord ernsthaft versicherte, dort draußen gebe es ein Lager von Eingeborenen – er nannte
     sie Feinde!   –, die sich irgendwo außer Sichtweite verbargen.
    Wir überbrachten die Post (ich hörte, auf dem einsamen Schiff starben täglich drei Männer am Fieber) und fuhren weiter. Wir
     hielten noch an mehreren Orten mit albernen Namen, wo in der stillen, erdigen Atmosphäre der lustige Tanz von Tod und Handel
     vonstatten geht wie in einer überhitzten Katakombe; immer entlang der gestaltlosen Küste mit der gefährlichen Brandung, als
     versuchte die Natur selbst, Eindringlinge abzuwehren; in Flüsse hinein und wieder heraus, Ströme des Todes im Leben, deren
     Ufer zu Schlamm verfaulten, deren Wasser, zu Schleim verdickt, die gekrümmten Mangroven überspülte, die auf dem Höhepunkt
     ohnmächtiger Verzweiflung nach uns zu greifen schienen. Nirgends hielten wir lang genug, um einen konkreten Eindruck zu gewinnen,
     doch das allgemeine Gefühl von unbestimmter, bedrückender Verwunderung nahm immer mehr Besitz von mir. Die Reise war wie eine
     ermüdende Pilgerfahrt durch angedeutete Alpträume.
    |24| Es dauerte über dreißig Tage, bis ich die Mündung des großen Flusses sah. Vor dem Sitz der Regierung legten wir an. Da meine
     Arbeit erst gut zweihundert Meilen stromaufwärts beginnen sollte, machte ich mich sobald wie möglich auf den Weg zu einem
     Ort dreißig Meilen weiter.
    Ein kleiner seetüchtiger Dampfer nahm mich an Bord. Der Kapitän war Schwede, und da er wußte, daß ich Seemann war, lud er
     mich zu sich auf die Brücke ein. Er war ein junger Mann, schlank, blond und verdrießlich, mit dünnem Haar und schlurfendem
     Gang. Als wir von dem elenden kleinen Landeplatz ablegten, nickte er verächtlich zum Ufer hinüber. ›Hier übernachtet?‹ fragte
     er. ›Ja‹, sagte ich. ›Feine Gesellschaft, diese Regierungsleute – finden Sie nicht?‹ Sein Englisch war sehr präzise, doch
     der Tonfall verriet Verbitterung. ›Seltsam, was manche Leute für ein paar Francs im Monat tun. Ich frage mich, was aus deren
     Sorte wird, wenn sie landeinwärts gehen.‹ Ich sagte ihm, ich rechnete damit, das bald selbst zu sehen. ›So-o-o!‹ rief er.
     Er schlurfte über die Brücke und behielt ein wachsames Auge voraus. ›Seien Sie sich da nicht so sicher‹, fuhr er fort. ›Neulich
     nahm ich einen mit, der sich unterwegs erhängte. Auch ein Schwede.‹ ›Erhängt! Warum, in Gottes Namen!‹ rief ich. Er hielt
     weiter wachsam Ausschau. ›Wer weiß! Die Sonne war zuviel für ihn, oder vielleicht das Land.‹
    Schließlich erreichten wir eine offene Flußstrecke. Eine felsige Klippe tauchte auf, Berge aufgeschütteter Erde am Ufer, Häuser
     auf einem Hügel, andere mit Eisendächern im Geröll der Aushebungen oder an einem Abhang klebend. Über der Szene bewohnter
     Verwüstung brodelte das ununterbrochene Tosen der Stromschnellen flußaufwärts. Viele Menschen, die meisten davon schwarz und
     nackt, bewegten sich wie Ameisen hin und her. Ein Bootsteg ragte in den Fluß. Von Zeit zu Zeit verschwand alles im plötzlich
     aufflackernden gleißenden Sonnenlicht. ›Da ist die Station Ihrer Firma‹, sagte der Schwede |25| und deutete auf drei barackenartige Holzgebäude auf dem felsigen Abhang. ›Ich schicke Ihnen Ihre Sachen hoch. Vier Kisten,
     sagten Sie? Also gut. Leben Sie wohl.‹
    Ich stieß auf einen Kessel, der durchs Gras rollte, dann fand ich den Pfad, der den Abhang hinaufführte. Ich mußte Felsbrocken
     ausweichen und einer Lore, die mit den Rädern in der Luft auf dem Rücken lag. Ein Rad fehlte. Das Ding wirkte so tot wie ein
     Tierkadaver. Ich sah noch mehr Teile verfallender Maschinen, einen Stapel rostender Schienen. Zur Linken warf eine Baumgruppe
     einen schattigen Fleck, in dem sich Dunkles matt zu regen schien. Ich blinzelte, der Pfad war steil. Eine Sirene ertönte rechts,
     und ich sah, wie die schwarzen Männer rannten. Eine schwere, dumpfe Detonation ließ den Boden erzittern, eine Rauchwolke kam
     aus dem Fels, und das war alles. Der Felsen hatte sich kein bißchen verändert. Sie bauten eine Eisenbahnstrecke. Die Klippe
     war nicht einmal im Weg; das

Weitere Kostenlose Bücher