Herz im Spiel
sich ihr mit einem Mal eröffnete.
Aber sie fand auch Bände in ihrer Sprache. Damit ließ sie sich in der Bibliothek nieder und las, als Mrs River ihr einige Tage später einen Brief brachte, der eben mit der Post gekommen war.
„Er ist von Mr Desmond“, sagte die Haushälterin und hielt den Brief in die Höhe. „Darin heißt es, dass er eine Schule für Sie gefunden hat. Er schreibt … nun, ich will es Ihnen vorlesen: ‚Die Akademie von Farnham liegt außerhalb der gleichnamigen Stadt. Ich glaube, die Ruhe wird Miss Trenton gefallen, und Mrs Avery, die Schulleiterin, hat mir versichert, dort werde die beste Ausbildung geboten, die einer jungen Dame unserer fortschrittlichen Zeit angemessen ist.‘ Hört sich das nicht großartig an? Der Herr schreibt, Sie sollten Kingsbrook innerhalb einer Woche verlassen, von dem Tag gerechnet, an dem er den Brief geschrieben hat, das heißt also … mal sehen … übermorgen.“
Marianne spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte, aber sie war nicht sicher, ob es Freude war oder Furcht.
„Allerdings meinte er noch, falls Ihnen das zu früh sei, sollten Sie sich soviel Zeit nehmen, wie Sie brauchen. Aber ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Alice kann Ihre Sachen in einem halben Tag packen. Meinen Sie nicht auch?“
Marianne hatte kaum eine Wahl, als zur Antwort auf Mrs Rivers muntere Frage zu nicken.
Ohne weitere Debatte fand Marianne sich zwei Tage später einmal mehr hinter Rickers sitzend, in einer offenen Kutsche, die sie zur „Farnham-Akademie zur Erbauung junger Damen von Stand“ fuhr.
Marianne hatte nur einundzwanzig Tage auf Kingsbrook verbracht, doch diese waren die stürmischsten Tage ihres jungen Lebens gewesen. Erstaunt bemerkte sie ein schmerzliches Gefühl von Heimweh, als die Straße eine Biegung machte und das Gutshaus sowie die umgebende Parklandschaft dahinter verschwanden.
Die Akademie war in einem wenig bemerkenswerten dreistöckigen Bau aus grauem Stein untergebracht und besaß zwei Seitenflügel. In einem der Nebengebäude befand sich die Küche, das andere war für Leibesübungen und Gymnastik bestimmt, „die für das Wohlbefinden des Körpers ebenso notwendig sind wie die Nahrung.“ So jedenfalls befand die spröde, steckendürre Mrs Avery, Schulleiterin und begeisterte Verfechterin der segensreichen Wirkungen des Sports.
Der Haupttrakt der Schule, wo die Mädchen den größten Teil ihrer Zeit verbrachten, lag innerhalb des weitläufigen zentralen Gebäudes.
Mrs Avery unterrichtete auch Latein. „Nicht alle Schulen für junge Damen bieten das Erlernen der lateinischen Sprache an“, hielt sie den Mädchen oft vor Augen. „Junge Frauen lehrt man, leise zu sprechen und sich auf ihre Handarbeit zu konzentrieren, während die tiefsinnigsten Gedanken der Menschheit in den klassischen Sprachen verborgen liegen. Junge Männer lernen Latein. Ihr jungen Frauen habt außerordentlich großes Glück, dass man euch denselben mystischen Schlüssel in die Hand gibt.“
An jenem schönen Nachmittag Ende Juni setzte Rickers also Marianne vor dem kargen Steinbau ab.
„Miss Trenton.“ Mrs Avery begrüßte die neue Schülerin persönlich. „Willkommen in der Akademie von Farnham. Ich hoffe, Sie werden hier glücklich sein.“
Marianne hoffte das ebenfalls und tat mit einigen leise gemurmelten Worten ihre Zustimmung kund. Man führte sie auf ihr Zimmer, das heißt, in den Schlafsaal, in dem die Hälfte der Mädchen schlief. Die andere Hälfte, die jüngeren Mädchen im Alter von acht bis zwölf Jahren, nächtigte ein Stockwerk tiefer in viel engeren Quartieren.
Neben Mariannes Bett stand ein Tischchen mit zwei Schubladen für ihre Unterwäsche und andere persönliche Besitztümer. Wie alle anderen erhielt sie einen leichten Rock aus braunem Wollstoff sowie zwei Musselin-Blusen, die zum Unterricht getragen wurden. Die Röcke, Blusen und Kleider, die die Mädchen von zu Hause mitgebracht hatten, hingen in einem langen Gemeinschaftswandschrank an der Stirnseite des Saales.
Gehorsam zog Marianne das Kleid, das sie auf der Herfahrt von Kingsbrook getragen hatte, aus und legte die Schuluniform an. Dann ging sie wieder in die Eingangshalle zu Mrs Avery und wurde in ihre Klasse geführt.
„‚Tief in der Hölle liegt ein Ort, genannt Malebolge …‘“ Ein schmales, blasses Mädchen, das jünger als Marianne aussah, las laut aus einem abgegriffenen Buch vor, das sie mit ihrer Banknachbarin teilte. Die schmächtige Frau am Kopfende des
Weitere Kostenlose Bücher