Herz in Gefahr
reichte sie ihm. “Du wirst uns nicht vergessen, nicht wahr, mein Freund? Du weißt, wir finden dich.”
Truscott nickte. Sollten sie doch glauben, dass er in ihrer Macht war. Er ging davon, ohne sich noch einmal umzublicken. Judith würde sich ein, zwei Tage lang nicht wegen seiner Abwesenheit wundern. Diese Zeit würde er verstreichen lassen, damit sein Gesicht heilen konnte. Er musste einen abstoßenden Anblick bieten. Die Reaktion seiner Mätresse bestätigte seinen Verdacht. Nan wich entsetzt vor ihm zurück, als er das Haus betrat.
Er ging an ihr vorbei, goss Wasser in eine Schüssel und begann sein verletztes Gesicht zu waschen. Die tiefen Kratzer brannten, aber nachdem er eine Flasche Gin geleert hatte, ließ der Schmerz nach. Er warf sich aufs Bett und schlief sofort ein.
Am Ende des folgenden Tages hatte Truscott fast alles Essen und alles Trinkbare im Haus aufgebraucht. Seine Forderung nach mehr ließ das Mädchen erschrocken sagen: “Man gibt mir nichts ohne Geld.”
“Mein Gott, muss ich mit Idioten geplagt werden?” Er warf seine Stiefel nach ihr. “Nimm die hier und versetz sie! Morgen wirst du sie wieder auslösen können.”
Ein Plan formte sich in seinem Kopf. Judith Aveton war sicher sehr leicht anzuzapfen, wenn er ihren Charakter richtig einschätzte. Nan sollte zu ihr gehen und sie anbetteln. Sie würde nicht abgewiesen werden. Und er selbst war nicht in Gefahr. Seine Dirne kannte ihn nicht als Charles Truscott.
Am nächsten Tag schickte er sie mit genauen Anweisungen fort. Sie durfte keine der anderen Damen des Aveton-Haushalts ansprechen. Sie musste ausschließlich nach Judith fragen.
Das Mädchen kam mit leeren Händen zurück.
“Sie haben mich an der Tür abgewiesen”, erklärte sie. “Schlag mich nicht! Ich habe mein Bestes getan.”
“Dummkopf! Du musst es morgen noch einmal versuchen.” Truscott erkannte, dass er sich in eine ausweglose Situation gebracht hatte. Ohne seine Stiefel saß er fest. “Nähere dich ihr auf der Straße. Du kannst sie nicht verfehlen. Ein hochgewachsenes Geschöpf, ohne besonderen Schick, aber trotzdem eine vornehme Dame …”
“Sie ist heute nicht ausgegangen. Ich habe gewartet …”
“Irgendwann muss sie ja mal ausgehen. Ich verliere allmählich meine Geduld mit dir, mein Kind. Keine Ausreden mehr, oder du bekommst meinen Gürtel zu spüren.”
Er war in jener Nacht brutal zu ihr und schickte sie in erschöpftem Zustand hinaus. Zutiefst verängstigt wartete sie am Zaun des Aveton-Hauses und sah Judith sofort, zögerte aber, sich ihr zu nähern. Die Dame wurde von ihrer Zofe begleitet. Vielleicht im Park? Aber nein, dort gesellte ein Mann sich zu ihr. Das Mädchen sah keinen Ausweg. Sie wagte es nicht, nach Seven Dials zurückzugehen und wieder einen Misserfolg zu melden. Erst als Judith den Park verließ, ließ ihre Verzweiflung das Mädchen handeln. Sie eilte hinter Judith her.
“Miss!”, rief sie. “Miss, bitte zeigen Sie Nächstenliebe und helfen Sie mir!”
Judith hörte sie nicht. Sie brachte sich die kostbare Stunde in Erinnerung, die sie eben mit Dan verbracht hatte. Da zog das Mädchen an ihrem Ärmel.
“Fort mit dir!” Bessie wollte sie schon beiseiteschieben, aber Judith wandte sich um.
“Was ist?”, fragte sie ruhig. “Nein, Bessie, bitte misch dich nicht ein. Du kannst schon hineingehen.”
Bessie achtete nicht auf die Bitte ihrer Herrin, sondern zog es vor, aufzupassen. “Miss Judith, achten Sie auf Ihr Retikül. Ich mag das Aussehen dieses Frauenzimmers nicht.”
Ein Blick von Judith brachte sie zum Schweigen.
“Ach, bitte! Ich will Sie nicht bestehlen, aber ich brauche Geld. Wir haben nichts zu essen, und Joshs Stiefel habe ich versetzen müssen. Miss, er kann nicht aus dem Haus, bis ich sie auslöse.”
Bessie kicherte amüsiert, aber Judith lächelte nicht. Sie sah die Angst in den Augen der jungen Frau, die außerdem kurz davor zu sein schien, zusammenzubrechen.
“Ich habe nur sehr wenig bei mir.” Judith drückte ihr alle Münzen, die sie bei sich trug, in die Hand. “Kommen Sie herein, und ich werde Ihnen mehr geben.”
Das Mädchen wich zurück. “Man wird mich nicht einlassen. Als ich nach Ihnen fragte, haben sie mir gedroht, mich dem Friedensrichter zu übergeben.”
“Ich verstehe.” Judith versuchte, ihre Wut zu zügeln. “Dann müssen wir uns wieder treffen. Morgen werde ich in Piccadilly sein. Wollen Sie zu dem Buchladen dort kommen?”
“Ach, vielen Dank, Miss. Um welche
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