Herz in Gefahr
Sebastian ließ sich durch ihren bösen Blick nicht einschüchtern. “Genau das hat Judith gestern getan, und sie wird es morgen wieder tun. Heute war sie so freundlich, die Jungen auf einem Ausflug zu begleiten, was eine große Erleichterung für mich war.”
“Du hättest ihren Lehrer schicken können oder einen Diener, wenn dieser … Gentleman nicht in der Lage ist, allein mit ihnen fertig zu werden.”
“Das hätte ich tun können, habe ich aber nicht. Lässt dein Gedächtnis nach, Amelia? Das hier ist Dan, mein Adoptivsohn. Du kannst ihn doch nicht vergessen haben.”
Heftige Röte überzog Amelias Wangen. So sehr es sie störte, war sie doch gezwungen, Dan mit einem knappen Nicken zu bedenken. Seine Verbeugung war die Vollkommenheit selbst.
Judith war bedrückt. Amelias Besuch hatte einen nur allzu offensichtlichen Zweck. Prudence und Amelia standen nicht auf bestem Fuß, und bisher hatte die Countess sich nicht die Mühe gemacht, sich nach der Gesundheit ihrer Schwägerin zu erkundigen. Also war Amelia hier, um zu spionieren und ihre Informationen Mrs Aveton zu überbringen. Der Ausdruck des Triumphs auf Amelias Gesicht tat nichts, um Judith zu beruhigen.
In diesem Moment wurde die Tür zum Salon geöffnet. “Miss Grantham!”, kündigte der Butler an.
Die Dame kam mit all der Würde ihrer fortgeschrittenen Jahre auf Sebastian zu. Ihre gebieterische Art stellte die Countess of Brandon vollkommen in den Schatten.
“Nun, mein Junge, wie geht es Ihnen?” Sie reichte Sebastian ihre Hand zum Kuss.
“Mir geht es gut, Ma’am, wie Sie sehen können.” Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. “Was Sie angeht, brauche ich nicht zu fragen. Ihr Schwung stellt uns alle in den Schatten.”
“Er ist nicht mehr, was er einmal war, aber ein, zwei Jahre halte ich wohl noch durch.” Miss Grantham nahm in einem bequemen Sessel Platz und sah sich um.
“In Ihrem Alter sollten Sie mehr achtgeben, Ma’am”, sagte Amelia boshaft. “Ich glaube, man hat mich falsch informiert. Ich hörte, Sie seien auf dem Weg zu einer Reise in die Türkei. Ausgerechnet die Türkei! Bitte, sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist. Es wäre so unklug …”
“Vielen Dank für Ihren Rat, Amelia. Aber sollte ich Ihre Meinung wünschen, werde ich darum bitten! Man hat Sie nicht falsch informiert. Ich reise noch vor Ende der Woche ab.”
“Oh, Miss Grantham, Sie machen sich lustig über uns.” Amelia bestand auf ihrer Ansicht. “Ein Scherz ist ja ganz gut, aber Sie dürfen Ihre Freunde nicht so foppen.”
“Ich scherze nie, und ich war mir nicht bewusst, dass Sie zu meinen Freunden gehören.” Die alte Dame betrachtete die Countess kühl. “Für Sie wäre das natürlich nichts. Sie werden allmählich zu fett, Amelia. Wenn Sie so weiteressen, kommen Sie nicht mehr aus Ihrem Sessel heraus.”
Judith hörte einen erstickten Laut von Dan und warf hastig ein: “Kinder, wollt ihr Miss Grantham und eurer Tante nicht von den Wachsfiguren erzählen?”
Miss Grantham winkte Thomas zu sich heran. “Komm her, Junge. So, so, ihr wart also bei den Wachsfiguren? Was habt ihr heute gelernt?” Ihr Ton war schroff, aber das Zwinkern ihrer Augen ermutigte die Jungen.
“Die Figuren sahen genau wie wirkliche Leute aus, Ma’am. Wir haben die Könige und die Königinnen von England und Frankreich gesehen.”
“Und was hat euch am meisten gefallen?”
“Wir haben gesehen, wie Charlotte Corday Marat in seiner Badewanne ermordet hat”, sagte Thomas prompt und mit einer Begeisterung, die die Countess empörte.
“Abscheulich!”, sagte sie. “Sebastian, ich muss mich wundern, dass du deinen Kindern erlaubst, sich solche Gräulichkeiten anzusehen.”
“Crispin hat nichts davon gesehen”, warf Judith schnell ein.
“Und Sie erstaunen mich auch, Miss Aveton. Wie haben Sie es nur zulassen können?”
Bevor Sebastian, dessen Miene immer finsterer geworden war, etwas sagen konnte, schnaubte Miss Grantham verächtlich durch die Nase und kam ihm zuvor.
“Quatsch!”, sagte sie unhöflich. “Amelia, reden Sie keinen Unsinn. Das Kind hat sehr nützlichen Geschichtsunterricht erhalten. Wollen Sie, dass er etwas anderes als die Wahrheit erlernt? Die Vergangenheit bestand nicht nur aus Rosen und Sonnenschein, so sehr Sie selbst vielleicht vorziehen, den Kopf in den Sand zu stecken.”
Das war zu viel für Amelia. Sie stand majestätisch auf, wünschte allen einen schönen Abend und ließ sich von Sebastian zu ihrer Kutsche begleiten.
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