Herz in Not
verfahren und ...“ Plötzlich fielen ihr die Tante und Beryl ein, die sie schutzlos und schlafend im Wagen zurückgelassen hatte. Im Geiste stellte sich Victoria bereits vor, was alles passieren könnte: Entführung, Raub, Mord. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Sir. Entschuldigen Sie, dass ich Sie aufgehalten habe.“ Ihr Versuch, unter seinem Arm durchzuschlüpfen, war vergeblich, seine Hände blieben fest gegen die Mauer gestemmt.
„Wollen Sie sich wirklich allein diesem betrunkenen Pöbel aussetzen, Mrs. Hart?“ fragte er ungerührt. „Sie können sich glücklich schätzen, Toby begegnet zu sein. Im Vergleich zu den übrigen Hafenarbeitern ist er ein ganz zurückhaltender Kerl. Er und einige andere, die heute Nacht hier herumlaufen, stehen in meinen Diensten. Täten sie es nicht, wären wir unseres Lebens nicht sicher. Wissen Sie überhaupt, wo Sie sich befinden? Wir sind hier nicht in einem friedlichen Dorf in Hertfordshire. Hier in dieser Gegend mangelt es sehr an ritterlichen Landedelleuten, Mrs. Hart.“
„Dessen bin ich mir durchaus bewusst, Mr. Hardinge“, antwortete sie pikiert. Die ironische Anspielung auf ihren verstorbenen Mann verstand sie sehr wohl. „Bitte, ich muss zurück zu meinen Begleiterinnen.“
„Begleiterinnen?“ fragte David ungläubig.
„Richtig! Und ich ängstige mich um deren Wohlergehen.“ Vergeblich versuchte sie die verräterischen Tränen zurückzuhalten. Närrin, schimpfte sie sich insgeheim. Wie konntest du annehmen, dass er dich mit Respekt behandelt? Wie konntest du auf Nachsicht und Verständnis hoffen? Bereits in Hartfield hatte er doch deutlich gemacht, dass er unsere Jugendliebe vergessen hat. Ihr war bekannt, dass gelangweilte reiche Gentlemen in allen Gesellschaftsschichten nach Ablenkung suchten. Doch dass der Viscount sich mit diesen Schurken abgab ... schlimmer noch, sogar von ihnen akzeptiert wurde ... unvorstellbar! Victoria erinnerte sich, wie schockiert ihre Tante über Hardinges Ausschweifungen war, und dachte an die grell geschminkten Frauen, die sie so vulgär beschimpft hatten. Doch wohl nicht mit denen ...? Nein, die Vorstellung war unerträglich. Mit einem kläglichen Aufschrei hämmerte sie verzweifelt gegen seine Brust.
Beruhigend strich David ihr übers Haar und nahm sie still in den Arm. Unwillkürlich legte Victoria ihren Kopf an seine Schulter, so als wäre es gestern gewesen, dass sie dort Trost gefunden hatte. „Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich habe Angst um meine Tante und ihre Zofe ...“
David bahnte ihnen den Weg durch die Menge. Erstaunt beobachtete Victoria, wie man ihnen bereitwillig Platz machte, eine Frau knickste sogar artig, einige der Männer nickten oder tippten mit der Hand zum Gruß an die Stirn. Als das Gedränge stärker wurde und sie zum Stehenbleiben zwang, legte David schützend den Arm um Victorias Schulter. Ängstlich schaute sie sich um. Im Getümmel erspähte sie Toby und neben ihm eine für die Gegend auffallend modisch gekleidete Frau. Langsam drehte sich die Blonde um. Ein kurzer Blick des Erkennens -voller Hass - streifte Victoria, und die Unbekannte musterte David abschätzend. Victoria sah, dass ein kurzes aufgebrachtes Wortgeplänkel zwischen Toby und der blonden Frau folgte, dann verschwanden die beiden im Getümmel.
Die Frau machte Victoria Angst. Unwillkürlich rückte sie näher an David, der sie beschützend an sich zog. Die Wärme seines Körpers, seine kräftigen Schenkel an ihrer Hüfte, sein Blick - fast willenlos schloss sie die Augen, legte ganz langsam den Kopf zurück, spürte, wie er sich über sie beugte, seine Lippen waren nur noch einen Seufzer entfernt.
Längst vergessene Gefühle kamen wieder hoch: seine langen berauschenden Küsse, seine sinnlichen Lippen, die so rücksichtslos, so wild ... und doch so gefühlvoll und zart sein konnten. Sie schlug die Lider mit den dichten vollen Wimpern auf, schaute ihn verlangend an und sah ... hinter ihm in der Menge die Kutsche. Zerknirschung, dass sie für einen Moment ihre Pflicht vergessen hatte, und Erleichterung, dass trotz allem nichts Ungehöriges passiert war, stellten sich sofort ein. Energisch riss Victoria sich los, schubste die Umstehenden beiseite und hastete zur Kutsche.
„Sie sind ausgesprochen dumm!“ hörte sie ihre streitbare Tante sagen. „Wir sind hier ganz offensichtlich nicht in Kensington. Schauen Sie sich doch um! Schankstuben und Kaschemmen, Ganoven und Dirnen ...“ Matilda unterbrach ihren Wortschwall, als sie
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