Herz in Not
warnte sie ihren Bruder, der böswillig die weiße Leinenserviette wieder auf den Teppich fallen lassen wollte.
„Wo ist der Räucherfisch?“ quengelte Charles Lorrimer. Ärgerlich stieß er den Teller mit dem Marmeladentoast weit über den blank polierten Tisch. „Ich will ein richtiges Frühstück.“
„Papa, von Räucherfisch bekommst du Verstopfung, und die Gräten bleiben dir zwischen den Zähnen hängen“, erklärte Victoria ruhig, während sie den Brief bereits ein zweites Mal las. Er kam von Margaret Worthington, die ihre Schwägerin mit Begleitung zur Geburtstagsfeier ihrer Nichte in London einlud.
„Natürlich musst du fahren“, sagte Victoria und gab ihrer Tante den Brief zurück.
„Wir müssen fahren“, erklärte Matilda strahlend. ,Jetzt haben wir einen Grund, nach London zu reisen, und das richtige Forum für gesellschaftliche Kontakte. Margaret besitzt sehr einflussreiche Freunde. Erinnerst du dich noch an die kleine Emma? Ich wette, Margaret fragt sich verzweifelt, ob sie ihre Tochter jemals unter die Haube bekommt. Dieses nette unscheinbare Geschöpf muss nun auch schon langsam vierundzwanzig sein. Emma hatte immer etwas von einem Blaustrumpf...“ Einen Moment lang unterbrach Matilda nachdenklich ihren aufgeregten Redefluss. „Bestimmt hat Margaret alle geeigneten Männer von fern und nah eingeladen. Gerade richtig für uns! Du wirst alle anderen Frauen in den Schatten stellen. Oh, Margaret wird schnauben vor Ärger ...“
„Tante!“ unterbrach Victoria sie beschwichtigend. „Ich würde ja gerne mitkommen, aber zurzeit ist das unmöglich“, sagte sie leise, mit Blick auf den Vater. Als sie sah, dass die Tante protestieren wollte, fuhr sie schnell fort: „Ich bin erst seit kurzem Witwe. Gewiss, ich habe Daniel versprochen, nicht zu weinen und zu trauern, aber so schnell schon wieder an Gesellschaften teilnehmen, das kann ich nicht. Außerdem ... Papa kann ich nicht allein lassen und Hartfield auch nicht.“
„Gewiss, mein Kind! Bedenke aber auch, dass dies vielleicht deine letzte Chance ist“, warnte Tante Matilda leise. „Bald wird es kein Hartfield mehr geben, das dich braucht. Alles wird unter den Hammer kommen, Haus und Hof, jeder Hektar Land ... es sei denn, du findest einen Mann, der alles übernimmt. Und was deinen Vater betrifft...“, sie nickte bedeutungsvoll zu ihrem verwirrten Bruder, der den Tisch mit seiner teegetränkten Serviette polierte, „... wie lange wird er wohl die Härten einer Armenfürsorge ertragen? Oder eines Irrenhauses? Du glaubst doch nicht, dass dein dicklicher Anwalt beabsichtigt, sich mit uns beiden Alten zu belasten.“ Aufmunternd klopfte sie Victoria auf die Schulter. „Daniel hat dich geliebt. Es war sein letzter Wille, dass du glücklich und zufrieden bist, deine Jugend genießt. Victoria, Margaret ist die Halbschwester meines verstorbenen Mannes. Wir machen lediglich einen Verwandtenbesuch.“
Victoria war eingenickt und schreckte hoch beim ruckartigen Rumpeln der Kutsche. Nicht schon wieder ein unnötiger Halt, dachte sie gereizt. Doch dann nahm der Wagen wieder Fahrt auf. Die Hand auf das verschlissene Polster der Hartfield’schen Reisekutsche gestützt, lehnte Victoria sich vor und blinzelte schläfrig aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Die Bauernhöfe rückten dichter zusammen, der Wald wurde spärlicher - sichere Zeichen, dass man sich der Stadt näherte. Sie hatten lange gebraucht für die Fahrt. Samuels Onkel hatte sich angeboten, gegen ein geringes Entgelt die beiden Damen nach London zu kutschieren. Doch der Mann kannte die Strecke nicht, und zudem schien es auch um sein Augenlicht nicht zum Besten zu stehen. Nachdem George Prescott sich einige Male verfahren hatte und auf schmalen Straßen umständlich die schwere Kutsche und die beiden alten Grauen manövrierte, wäre Victoria am liebsten nach Hartfield zurückgekehrt. Sie hätte es vorgezogen, ein paar Tage später die wesentlich sicherere Postkutsche von St. Albans nach London zu nehmen. Doch Tante Matilda hatte den Vorschlag strikt abgelehnt, und Victoria hatte sich in ihr Schicksal gefügt.
Sie sah zu ihren beiden Begleiterinnen, die, jede in eine Ecke der knarrenden Kutsche gekuschelt, fest schliefen. Beryl war bereits übel gelaunt - seit sie erfahren hatte, dass sie die beiden Damen begleiten sollte. Natürlich ahnte Victoria, dass es nicht die Reise war, die Beryl scheute, sondern der Gedanke an den Einfluss, den die Rivalin Sally während ihrer
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