Herz in Not
Abwesenheit auf Samuel ausüben könnte.
Die Kutsche schlingerte, fuhr aber langsam weiter. Sofort schaute Victoria wieder aus dem Fenster. London! Endlich! Zunächst übertönten nur ein paar Händler mit ihrem Geschrei das Rattern der Kutschräder, dann tauchten sie allmählich ein in den dröhnenden Lärm und den Gestank der großen Stadt. Victoria blinzelte in die Dämmerung und machte in der Feme Takelagen und Masten aus, die sich wie graue Skelette gegen den Himmel streckten. Offensichtlich waren sie in der Nähe des Hafens. Eine winzige zerlumpte Gestalt, ein kleiner Junge, der ihr bettelnd die Hand entgegenstreckte, rührte sie zutiefst.
Sie zog die Ledervorhänge vor. Unbeeindruckt vom großstädtischen Tumult schnarchten ihre beiden Begleiterinnen weiter leise vor sich hin. Victoria suchte eine bequemere Stellung auf den harten Sitzen, legte den Kopf zurück, freute sich auf eine warme Mahlzeit, ein weiches Bett, erinnerte sich schlechten Gewissens an den kleinen Betteljungen ... und langsam fielen ihr die Augenlider zu.
Binnen Minuten war sie wieder hellwach. Die Kutsche kam zum Stehen. Angespannt wartete Victoria. Dann schwankte das Gefährt, umständlich stieg George Prescott vom Bock. Unwillig riss sie das Fenster auf. Der Kutscher schaute sich suchend um und sprach mit einem raubeinigen Gesellen. Dann kratzte sich George nachdenklich den Kopf und ging auf eine Menschenansammlung zu.
Ohne nachzudenken sprang Victoria aus dem Wagen. „Mr. Prescott! Wohin wollen Sie?“ rief sie hinter ihm her, während sie ihm, ihre Röcke hochhaltend und dem Unrat der Straße ausweichend, nacheilte.
„Gehen Sie zurück zur Kutsche. Ich frage nur nach dem Weg. Der Mann dort meint, Rosemary Lane sei eine Abzweigung zurück den Ratcliff Highway hinauf..."
„Oh, mein Gott“, stöhnte Victoria. „Unser Ziel ist Rosemary House in Kensington, Mr. Prescott. Nicht Rosemary Lane!“ Argwöhnisch schaute sie zu dem bärtigen Kerl, der neben George Prescott stand. Die schwarzen Augen glitzerten begehrlich, glitten abschätzend über Victorias elegantes Kleid und richteten sich dann auf die unbewachte Kutsche hinter ihr.
Victoria erschrak. Die beiden schlafenden Frauen waren völlig schutzlos. „Sind das dort Straßenmusikanten?“ versuchte sie den Mann abzulenken. Mit unflätigem Geschrei und lautem Gelächter drängten plötzlich die Gäste der hell erleuchteten Tavernen und Schankstuben zu beiden Seiten der engen Straße hinaus auf das Kopfsteinpflaster. Besorgt beobachtete Victoria, wie sich Volltrunkene unterhakten, sich gegenseitig stützten und ihre Humpen leerten. Zwei beschwipste, grell geschminkte Frauen, die dicht an ihr vorbeigingen, sahen sie hämisch an.
„Ei ... wen haben wir denn da?“ höhnte eine. Als der bullige Mann ihnen einen freundlichen Schubs gab, kreischten die beiden vor Lachen, zeterten und gestikulierten zweideutig.
„Kommen Sie, Madam“, lud der bärtige Kerl Victoria ein. „Unsere nächtlichen Hahnenkämpfe sind berühmt. Selbst die Lords kommen, wetten und sehen sich die Kämpfe an. Taschenspieler und Zauberkünstler sind auch auf dem Markt. Es gibt viel zu sehen und zu kaufen. Keine Angst, wir sind ganz anständige Leute. Kommen Sie nur. Die Raufbolde tun Ihnen nichts. Ich pass schon auf und frage nach ... wie war noch die Adresse? Rosemary ...?“ Besorgt beugte er sich zu Victoria hinunter, doch wohl nicht, um ihre Antwort zu hören, sondern eher, um zu inspizieren, welche Reize sich unter ihrem Kleid verbargen.
Vorsichtig trat Victoria einen Schritt zurück und blickte Hilfe suchend zu George Prescott. Der Kutscher kratzte sich wieder den Kopf, drehte sich langsam um die eigene Achse und meinte dabei: „Also ... Kensington ist ...“
„Hahnenkämpfe?“ fragte Victoria Interesse heuchelnd, denn der bärtige Geselle schien wieder seine Aufmerksamkeit auf die Kutsche zu richten. „So ein Spektakel habe ich noch nie gesehen ...“ In der Hoffnung, ihn abzulenken, wollte sie an ihm vorbei.
„Was will die süße kleine Lady denn hier? Den Kampf sehen? Hat wohl Langeweile, was?“ Der Mann kam ganz nahe und grinste Victoria listig an. „Ich zeig dir eine andere Sportart, viel besser als diese Hähne ...“ Er brüllte vor Lachen, und bevor sie zurückweichen konnte, packte er sie mit seinen schmutzigen Fingern am Arm.
„Lassen Sie mich sofort los“, befahl Victoria, ihre Augen funkelten dunkel vor Wut.
„Loslassen ...?“ höhnte er. „Bist hier nicht in Mayfair, mein
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