Herz in Not
über ihre malträtierten Lippen. Victoria glaubte so etwas wie „tut mir Leid“ zu hören, und schon wandte er sich mit einer höflichen Verbeugung zu den alten Damen ab und schlenderte langsam davon.
Die beiden Matronen hatten derweil ihre Kenntnisse über die Risiken des Pferdesports ausgetauscht, aber Victoria war sich nicht sicher, ob Mrs. Porter, die sie so seltsam ansah, nicht doch Davids intime Geste bemerkt hatte.
9. KAPITEL
Gemächlich rollte die Kutsche durch die sonnige Landschaft Richtung Hertfordshire. Die Bäume zeigten bereits das erste zarte Grün ... ein gutes Omen, wie Victoria glaubte. Lächelnd sah sie zu ihren beiden schlafenden Begleiterinnen.
Es war ein tränenreicher Abschied von den Worthingtons gewesen, und Victoria hoffte, dass Emma, die ihr in der einen Woche richtig ans Herz gewachsen war, bald der Einladung nach Hartfield folgen würde.
Glücklicherweise hatte der Kutscher diesmal den Weg aus der Innenstadt ohne größere Umwege gefunden. Und nachdem sie den Hyde Park hinter sich gelassen hatten und sich nun auf der Landstraße nach Cambridge befanden, nahm Victoria ihren grauen Samthut ab und strich sich das Haar aus der Stirn. Vorsichtig tastete sie nach dem Brief in ihrer Rocktasche und zog zögernd den schweren Umschlag heraus, der ihr gestern durch einen Boten von der Coutts’ Bank persönlich übergeben worden war. Zum x-ten Mal las sie die kurze Nachricht: Hiermit bestätigen wir, dass heute eine Summe in der Höhe der Schulden Ihres verstorbenen Ehemannes eingegangen ist von David Hardinge, Viscount Courtenay of Hawkesmere aus der Grafschaft Berkshire. Der Brief trug die Unterschrift des Direktors und das Siegel der Bank.
Versonnen schaute Victoria aus dem Fenster. Sie war beunruhigt. Eigentlich hatte sie eine Bestätigung erwartet, dass sie der Bank keine vierzigtausend Pfund mehr schuldete. Zunächst hatte sie innerlich triumphiert, als sie den Brief von der Bank erhielt. Dann hatte sie den Wortlaut des Schreibens jedoch genauer analysiert, und allmählich waren ihr die Zweifel gekommen. Sie hatte erwogen, David ihre Bedenken mitzuteilen. Doch das wagte sie nicht. Er hatte seinen Teil des Handels erfüllt und erwartete das Gleiche von ihr ... möglicherweise sofort angesichts der Höhe der Summe.
Ihr war ganz und gar nicht wohl, wenn sie an David dachte. Und es war nicht nur die Angst vor seiner Rache, wenn er entdecken würde, dass sie sich heimlich davongemacht hatte. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an einen liebevollen Kuss ... und an einen grausamen, fordernden ... an harsche böse Worte. David ist ein kalter, herzloser Mann, den ich aus meinem Gedächtnis streichen muss, redete sie sich ein.
Sie versuchte an etwas anderes zu denken. Alexander Beresford, der Mann mit dem freundlichen plumpen Gesicht fiel ihr ein. Wie sollte sie ihm die Tilgung ihrer Schulden erklären? Hardinge war zwar ein entfernter Verwandter - dennoch musste solche Großzügigkeit Anlass zu den wildesten Spekulationen geben.
Ich bin niemandem eine Erklärung schuldig, überlegte sie trotzig, legte den Kopf zurück und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen, dachte an ihren Vater und versuchte für den Rest des Weges zu schlafen.
„Was habe ich dir wohl aus London mitgebracht, Papa?“ neckte Victoria ihren Vater, als sie in den Morgensalon trat.
Gereizt drehte sich Charles Lorrimer um. „Gestern habe ich dir schon gesagt, dass du mich nicht stören sollst, wenn ich lese!“ Er riss sich die Brille von der Nase und schleuderte das Buch auf den Boden. Jetzt muss ich wieder von vorne anfangen“, zankte er. „Weshalb musst du mir unbedingt die einzige Freude nehmen, die mir noch geblieben ist?“ Victoria näherte sich ihm langsam. In der Hand hielt sie ein kleines Päckchen mit einem roten Band. „Nicht gestern, Papa. Ich war doch eine Woche verreist. Gestern war ich in London ... und ich habe dir etwas mitgebracht. Ich hoffe, es gefällt dir. Die Wahl fiel mir nicht leicht, bei so vielen Geschäften und so verlockenden Angeboten.“
Abrupt drehte der alte Mann sich um und schaute hinaus in den sonnigen Garten. „Kannst du mich nie in Ruhe lassen? Muss ich in mein Zimmer gehen, um Frieden zu haben?“ Seine Stimme war schrill vor Aufregung. Victoria streckte ihre Hand aus, um ihn zu beruhigen. Er schlug sie zurück.
„Wo ist Matilda? Vermutlich immer noch mit ihren Vorbereitungen für London beschäftigt. Mich fragt niemand, ob ich nach Hammersmith möchte. Es wird Zeit, dass
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