Herzbesetzer (German Edition)
aber kein Kind mehr«, sagt sie. »Inzwischen hast du eine andere Position. Du hättest jetzt die Chance, es besser zu machen.«
Ich weiß nicht genau, wie ich dieses Gespräch zum Abschluss gebracht habe, wahrscheinlich mit einem abrupten Themawechsel. Ziemlich aufgewühlt sitze ich jetzt auf einer Bank in der Sonne und esse ohne Appetit meine Currywurst. Komischerweise wimmelt es hier plötzlich von Familien. Wo kommen die alle her? Um diese Zeit? Haben die keine Arbeit oder was? Vatis, Muttis, Kinder. Ich beobachte sie skeptisch und leicht angewidert wie hoch infektiöses Material unter einem Mikroskop. Worauf läuft das hinaus? In welche Falle will Judith mich locken? Ich habe eine kurze, schreckliche Vision von einer Wohnung, in der nicht nur Anoki sein Unwesen treibt, sondern auch noch Judith ihre Kuchen backt und Una ihren Freundinnen kichernd aus der Bravo vorliest, und ich bin darin so etwas wie ein geduldeter Asylbewerber. Egal welche Tür ich öffne, überall ist schon jemand und reklamiert den Platz für sich. An der Garderobe ist kein Platz mehr für meine Jacke, in meinem Bett schnarcht ein stinkender Golden Retriever, mit meinem Auto werden die Wochenendeinkäufe erledigt und die Kinder zu ihren Ballett- und Karatestunden gefahren, und wenn ich mal allein sein will, muss ich mich auf dem Klo einschließen.
Unmittelbar vor mir küsst sich ein Paar ungefähr meines Alters; der Mann hat ein Baby im Arm. Ich schmeiße die halb aufgegessene Currywurst in den Mülleimer und trete die Flucht an meinen Arbeitsplatz an.
Beim abendlichen Check meiner E-Mails finde ich eine Nachricht von Anoki. »hi großerBruder wie war dein Tag,Hab heute matharbeit geschrieben N scheiße Hab ich total vergessen ( Nich geübt) und keine eizig aufgabe versrtandne.najaegal Ich heng dir 2 songs an die mir Heut rutergeladen hab gefallen die dir.achja ich hab die betten neu bezohgen was sags du jetz.ich fahr gleich zu NIck deshalb ruf ich dicherst später an is das ok. so Gegen10 ich hoffe du schläfs dan noch nich.he komms du mit dem geLD aus ich Kann dir jd occh mla was schicken sag becheid ja!hdl ANOKI © «
Nein, eine Familie muss ich nicht unbedingt haben – aber ihn. Was ist es bloß, das ihn so unwiderstehlich macht? An seinem hübschen Gesichtchen kann es nicht allein liegen; so was haben andere auch. Seine geistigen Fähigkeiten halten sich in überschaubaren Grenzen. Er ist nicht besonders selbstlos, edel oder charakterstark. Er verfügt nur über eine minimale Bildung und hat keinen blassen Schimmer von Rechtschreibung, er klaut, er lügt, er kifft und er schmatzt beim Essen, und kochen kann er auch nicht. Also, was ist es? Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich lese seinen orthographischen Kollaps mindestens zehn Mal, ich höre mir die beiden angehängten Sounddateien an – wüste Deathmetal-Songs –, bis ich sie auswendig mitbrüllen kann, und ich stehe vor seinen Fotos an meiner Wand und schmelze dahin. Scheißegal, was es ist: Er geht mir mitten ins Herz.
Am Donnerstag ist mein Tank leer, und ich habe noch acht Euro im Portemonnaie. Die setze ich in ein paar unverzichtbare Lebensmittel um. Judith ruft an und fragt, ob ich mit ihr ins Kino gehen möchte, was ich leider ablehnen muss. Ich nenne ihr auch den Grund dafür – was für einen Sinn hätte es, sie zu belügen? –, und da bietet sie an, mich einzuladen, aber das kann ich auf gar keinen Fall annehmen. Lieber bleibe ich allein zu Hause und bedaure mich. Freitagmorgen fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit, eine Strecke von fünfundvierzig Minuten, und unterwegs hoffe ich mit jeder Umdrehung meiner Pedale, dass heute mein Gehalt überwiesen wird. In der Mittagspause haste ich zum Geldautomaten, schiebe mit zitternder Hand die Karte in den Schlitz und drücke auf »Kontostand«. Als – 5.752,22 auf dem Monitor erscheint, heule ich beinahe auf vor Enttäuschung. Und ich bemühe mich, die Anzeige mit meinem Körper zu verdecken, damit die hinter mir Stehenden nicht mitkriegen, was für ein Loser ich bin. Ich hab unheimlich Lust, irgendwas kaputtzumachen. Hier sind bloß zu viele Leute, sonst würde ich in die Glasscheibe der elektrischen Schiebetür treten. Ich gehe wieder hinaus auf die Straße, wo sorglose, schöne, reiche Menschen entspannt auf den sonnigen Plätzen vor den Cafés sitzen und sich die Mittagspause mit Latte Macchiato oder irgendwelchem anderen Szeneschnickschnack versüßen. Ich könnte mir höchstens einen Automatenkaffee leisten. Aber
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