Herzblut 02 - Stärker als der Tod
schärfer, und du gewinnst so viele neue Eindrücke, dass du sie erst mal verarbeiten musst.“
„Also kommt einem plötzlich alles anders vor?“
„Ja. Es ist eine große Umstellung. Wenigstens für uns. Als wäre man halb blind durchs Leben gegangen und würde plötzlich eine perfekte Brille aufsetzen. Die Welt wirkt lebendiger, schöner und klarer und kräftiger. Nach einer Weile gewöhnt man sich daran, sogar die neuen Sinne werden normal. Manche von uns vergessen, wie langweilig die Welt durch die Augen von Menschen aussieht. Und man ist schneller und stärker und hat bessere Reflexe – daran muss man sich wirklich erst mal gewöhnen, weil der Körper sich buchstäblich schneller bewegt, als der Kopf es anfangs verarbeiten kann. Das ist die eigentliche Gefahr für Zöglinge.“ Den letzten Satz murmelte er so leise, als wollte er mir ein Geheimnis anvertrauen.
„Und der Blutdurst macht es nicht gerade besser“, sagte ich.
Gowin nickte. Er schob die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans und ging weiter. „In den ersten Stunden nach der Verwandlung kann der Drang, jeden Menschen in der Nähe zu jagen, überwältigend sein. Und weil sie plötzlich so schnell sind, können sie nicht einmal nachdenken, bevor ihre Körper auf diesen Drang reagieren.“
Wow. Kein Wunder, dass Dad fast zwanghaft darauf bestand, dass ich jeden Morgen Tai-Chi übte. „Deshalb müssen wir wohl auch lernen, langsamer zu werden, oder?“
„Bringt dein Vater dir Tai-Chi bei?“
Ich nickte.
Er grinste. „Das habe ich bei ihm auch gemacht. Und es funktioniert sogar.“ Er seufzte tief. „Du hast unheimliches Glück, weißt du das? Dein Vater auch. Ihr habt so viel Zeit, dich langsam darauf vorzubereiten und dich zu unterrichten, bevor es sich zu einem echten Problem auswächst.“
Ich dachte an den Türknauf, den ich beim Frühlingsball aus der Toilettentür gerissen hatte, und schluckte schwer. „Was passiert, wenn man mit der Ausbildung für einen …“
„Zögling“, sprang Gowin ein.
„Genau, für einen Zögling zu lange wartet?“
„Na ja, meistens laufen sie Amok und bringen wahllos Menschen um, bis wir sie schnappen und unschädlich machen.“
Sie unschädlich machen?
Als ich ihn verdutzt ansah, erklärte er: „Wir pfählen sie.“
Oh.
Wir kehrten um und gingen etwas schneller zurück, jetzt, wo er schon alles gesehen hatte. „Hat der Rat dich geschickt, damit du … tja, was? Damit du siehst, ob Dad mir alles richtig beibringt?“
Er nickte. „Wir wollen sichergehen, dass er sich nicht davon irritieren lässt, dass er dein biologischer Vater ist. Als dein Schöpfer darf er seine Pflichten, was deine Ausbildung angeht, nicht schleifen lassen.“
„Hat dich der Rat nur deswegen geschickt?“
Er sah sich um, als wollte er sicher sein, dass uns niemand belauschte. „In einigen Städten, in denen Vampire und der Clannzusammenleben, gab es … leichte Unruhen. Der Rat wollte sich davon überzeugen, dass sich diese Unruhen nicht bis zum Hauptsitz des Clanns ausbreiten.“
Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du mit Unruhen? Ich dachte, wir hätten einen Friedensvertrag.“
„Jeden Tag werden Verträge gebrochen, Savannah.“ Er klang freundlich, wie ein Geschichtslehrer, der einen Schüler korrigiert. „Der Rat muss wissen, ob das auch hier passiert.“
„Und wie willst du das heute herausfinden?“
„Oh, ich bleibe nicht nur heute. Dein Vater sucht eine ganze Reihe zeitgenössischer Gegenstände für sein aktuelles Renovierungsprojekt. Wer sollte ihm besser helfen können als ich? Ich liefere sogar alles bis an die Haustür.“
„Und bei den Lieferungen kannst du gleich die Lage sondieren.“ Na toll. Ratsmitglieder, die regelmäßig in Jacksonville vorbeischneiten, hatten uns gerade noch gefehlt. Der Clann würde begeistert sein. „Dir ist schon klar, dass die Nachfahren einen Anfall kriegen, wenn sie dich sehen und rausfinden, dass du zum Rat gehörst.“
Er grinste. „Dann sollten du und dein Dad ihnen lieber nicht erzählen, wer ich bin, was?“
Ich sah ihn finster an. „Das würde mir das Leben hier erst mal richtig vermiesen, das kannst du mir glauben.“
„Ach ja? Die Nachfahren sind wohl nicht gerade erfreut darüber, dass du mit Tristan zusammen warst, oder?“
„Ja, das kannst du laut sagen. Allerdings mochten sie mich auch schon vorher nicht besonders.“
„Und jetzt, nachdem ihr euch getrennt habt?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenigstens lassen sie mich in
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