Herzblut 02 - Stärker als der Tod
auf keinen Fall, dass du es in deinem Alter verdient hast, solches Leid zu ertragen.“
Falls er Mitgefühl zeigen wollte, sollte er lieber damit aufhören. Denn jedes Wort glich einer Ohrfeige, jeder Satz hinterließ ein Mal auf meinem Körper.
„Karma, Zufall, was auch immer – du kannst dem Rat sagen, dass ich meine Lektion gründlich gelernt habe.“
Bevor wir das Haus betraten, warf er mir einen letzten Blick zu, den ich nicht deuten konnte.
Am Ende war es gar nicht so schlimm, meine neue Nahrung zu trinken. Dad mischte das gespendete Blut, das Gowin mitgebracht hatte, mit einer Flasche Multivitaminsaft. Ich stürzte das Gemisch schnell runter, damit ich den Blutgeschmack nicht wahrnahm.
Plötzlich blitzte etwas vor meinen Augen auf, und ich stolperte. Was war das denn?
„Dad, ich … ich sehe etwas“, murmelte ich.
„Michael, hast du sie nicht vor den Bluterinnerungen gewarnt?“ Gowin schnalzte mit der Zunge.
„Ich hätte nicht gedacht, dass sie es so schnell in sich hineinschüttet. Ich wollte es ihr erklären, während sie anständig langsam trinkt.“
„Vergiss die Benimmstunde. Erklärt mir endlich, was hier los ist!“ Es fühlte sich an, als hätte mir jemand eine Art Videobrille mit Panoramabildschirm aufgesetzt. Wohin ich auch den Kopf drehte, überall sah ich Menschen, die mich mit einem fremden Namen ansprachen, und Orte, an denen ich nie gewesen war. Trotzdem konnte ich im Hintergrund noch Dad und Gowin reden hören.
„Das Blut enthält Erinnerungsfetzen des Spenders“, sagte Dad, während mich jemand beim Ellbogen nahm und führte. „Ich bringe dich in dein Zimmer. Geh vorwärts. Noch einen Schritt. Noch einen.“
Wir schafften es die Treppe hinauf und in mein Zimmer. Ich fielauf mein Bett, und Dad deckte mich zu.
„Wie lange dauert das?“, fragte ich. Gerade wechselte die Szene vor meinen Augen zu einer Geburtstagsfeier, und die Geräusche wurden lauter.
„Ein paar Stunden. Es tut mir leid, dass ich es dir vorher nicht besser erklären konnte. Ruh dich aus und versuch, nicht gegen die Erinnerungen anzukämpfen. Mit der Zeit vergehen sie.“
„Morgen früh muss ich zum Charmers-Training“, murmelte ich. „Um sieben.“
Links von mir piepste etwas. „Dein Wecker ist gestellt. Bis dahin sollten die Bluterinnerungen vergangen sein. Aber ich werde auch nachsehen, ob du wach wirst, nur für den Fall.“
Für welchen Fall? Für den Fall, dass ich nie wieder Herrin meiner Sinne wurde?
Das war mein letzter eigener Gedanke. Danach entglitt ich der Realität und versank im Leben eines anderen.
15. KAPITEL
A ls ich am nächsten Morgen aufwachte, sagte Dad, Gowin sei über Nacht geblieben. Er habe aufpassen wollen, ob ich das gespendete Blut gut vertrug. Heute Morgen sei er früh gegangen, er würde aber zurückkommen. Gowin hatte eine Wohnung in Tyler gemietet, damit er jederzeit vorbeischauen konnte, wenn der Rat es für angebracht hielt.
Ein Mitglied des Rates wollte nach Osttexas ziehen. Die Nachfahren würden vollkommen aus dem Häuschen sein.
Und ich hatte auch schon eine Ahnung, wem sie die Schuld daran geben würden, wenn sie es mitbekamen.
Die Bemerkung, dass die Bluterinnerungen so gar keine Freude waren, sparte ich mir. Mein Gesichtsausdruck dürfte alles gesagt haben. Dad versprach, ich müsse nur einmal in der Woche trinken, und das könne ich auf die Wochenenden legen, damit ich mich bis zum Montag von den Bluterinnerungen erholen konnte.
Es war schrecklich, wirre Erinnerungsfetzen von jemand anderem durchleben zu müssen. Solange dieser Zustand anhielt, hatte ich null Kontrolle über meinen Verstand. Wenigstens musste ich durch die Blutspende nicht durch die Gegend laufen und Leute beißen. Oder mich mit dem Blutdurst herumschlagen, als ich in der letzten Ferienwoche jeden Tag von sieben bis elf beim Intensivtraining der Charmers war. Diese Woche wurde genutzt, um die Indies, die Schülerinnen aus dem zweiten Highschooljahr, in die Gruppe einzubinden. Die Braves, die Mädchen aus dem dritten Jahr, genossen es immer sichtlich, nicht mehr die Neulinge im Team zu sein. Aber den meisten Spaß hatten eindeutig die Chiefs, die Mädels aus dem vierten und letzten Jahr, und der neue Captain und ihre Officers. Sie trieben die Neulinge die ganze Woche über an, ließen sie Runden um den Sportplatz drehen und Liegestütz und Sit-ups machen. Dazwischen wurden die ersten neuen Tänze einstudiert, die bei den Footballspielen im Herbst und zum Einheizen der Spieler
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