Herzblut 02 - Stärker als der Tod
jetzt so anzustarren. Aber ich konnte nicht anders, obwohl sich der tiefe Schmerz in seinen Augen in mein Innerstes brannte.
Die Lehrerin Mrs Knowles deutete auf den Tisch in der ersten Reihe, der am nächsten bei der Tür stand, und jemand setzte sich dorthin. Anschließend wiederholte sie die Prozedur für den Tisch daneben. Offenbar wollte sie quer durch die Reihen gehen, statt jeweils von vorn nach hinten. Genauso wie Mr Smythe es in seinem Geschichtsunterricht machte. Was hieß, dass Tristan in diesem Jahr nicht hinter mir sitzen würde, sondern neben mir. Toll. Ich würde ihn ständig aus den Augenwinkeln sehen.
Vielleicht sollte ich die Haare offen tragen statt als Pferdeschwanz, damit sie mir die Sicht versperrten.
Angestrengt versuchte ich mich auf Mrs Knowles zu konzentrieren. Aber die Gedanken meiner Mitschüler steigerten sich zu einem Brüllen, als hätte jemand einen iPod voll aufgedreht, und ich konnte sie nicht verstehen.
Sie ging weiter und deutete auf den dritten Tisch in der ersten Reihe. Als Tristan sich auf diesen Platz setzte, war ich endlich von seinem Blick erlöst. Leider half das nicht gegen das laute Stimmengewirr in meinem Kopf oder meinen rasenden Herzschlag.
Das konnte ich nicht! Ich würde es nicht überstehen, noch ein Jahr jeden zweiten Tag so dicht neben Tristan zu sitzen. Jedes Mal, wenn ich dieses Klassenzimmer betrat, würde ich anderthalb Stundenlang nur eine Handbreit von ihm entfernt sein. Schon die letzten Wochen des vorigen Jahrs waren eine Qual gewesen. Aber danach hatte ich den ganzen Sommer ohne ihn verbracht. Er hatte mir gefehlt, doch es war eine Erleichterung gewesen, nicht ständig diesen körperlichen Schmerz in seiner Nähe zu spüren.
Diesen Kampf wollte ich nicht noch einmal führen müssen. Nicht dieses Jahr. Nicht nach allem, was wir durchgemacht hatten, nach unseren gemeinsamen Erinnerungen, nachdem ich mich in ihn verliebt hatte …
Und nicht mit dem Blutdurst.
Ich sah nur noch Mrs Knowles’ Helmfrisur vor mir. Blinzelnd schaute ich mich um. Alle saßen schon, nur ein Platz in der ersten Reihe war noch frei – der neben Tristan.
Mrs Knowles sagte etwas zu mir, aber ich konnte sie nicht verstehen. Ich versuchte ihr von den Lippen zu lesen. Wahrscheinlich wollte sie, dass ich mich setzte.
Weil ich durch den Lärm in meinem Kopf nicht wusste, wie laut ich war, versuchte ich zu flüstern: „Ähm, können wir uns bitte die Plätze selbst aussuchen?“
Sie sah mich finster an, das Gesicht so verkniffen, als hätte sie gerade in etwas reingebissen und ein Haar darin gefunden. Ihre Antwort war ein einziges Wort, das für mich aussah wie: „Was?“
Ich wiederholte die Frage etwas lauter, damit sie mich hörte. Aber sie redete so schnell, dass ich sie nicht verstand. Panisch versuchte ich es noch einmal und sagte laut: „Ich möchte mir bitte selbst einen Platz aussuchen.“
Sie wurde blass, und aus den entsetzten Gedanken der anderen Schüler konnte ich mir zusammenreimen, dass ich sie gerade angeschrien hatte. So ein Dreck.
17. KAPITEL
I ch flüsternd hektisch: „Entschuldigung, tut mir leid. Ich bin im Moment ein bisschen taub, weil ich … weil ich mich in der letzten Stunde um die Musik für die Charmers gekümmert habe.“
Während sie mich musterte, bekam ihr Gesicht langsam wieder Farbe. Sie atmete lang und tief ein, zeigte auf den leeren Tisch und sagte: „Setzen. Sie. Sich. Sofort!“
Ohne meine Mitschüler anzusehen, setzte ich mich auf den gefürchteten Platz. Ich spürte Tristans Nähe richtig, sie ließ meine Haut kribbeln. Die Gedanken der anderen zeigten mit ganz klar, wie verrückt ich aussah. Meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen, und ich rutschte auf meinem Stuhl so weit von ihm weg, wie es nur ging.
In meinem Schädel wurden die Stimmen immer lauter.
O Mann, die beiden können sich nicht mal ansehen!
Holla. Die Adern an seinem Hals kommen richtig raus. Er sieht so wütend aus, als könnte er Savannah erwürgen. Was hat sie letztes Jahr mit ihm gemacht?
Perfekt getroffen! Die Fotos werden auf Facebook richtig reinhauen .
Als ich mich umdrehte, sah ich, wie ein Mädchen weiter hinten unter ihrem Tisch an ihrem Handy rumspielte.
Drogen. Bestimmt dealt sie mit Drogen, sonst hätte sie nicht plötzlich so viel Geld. Es sei denn, sie hat für ihre Großmutter einen Batzen von der Versicherung bekommen und alles für Klamotten ausgegeben. Typisch Assis. Das Geld hätte sie lieber fürs College aufheben sollen
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