Herzblut 02 - Stärker als der Tod
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So langsam fehlten mir die täglichen Beleidigungen der Zickenzwillinge. Die sagten mir wenigstens alles ins Gesicht.
Ist sie nicht Annes beste Freundin? Ja, klar, sie hat doch jeden Tag an ihrem Tisch gesessen. Ob Anne sie schon gesehen hat?
Was für eine Erleichterung, dass ich wenigstens eine halbwegs nette Sache über mich hörte. Ich konzentrierte mich auf diesen Gedanken und überlegte, woher er wohl kam. Unauffällig sah ich kurz nach links, zu dem Tisch zwischen mir und der Tür. Ach, natürlich.Ron Abernathy, Annes einziger Exfreund.
Ich hatte das Gefühl, ich würde Rons Privatsphäre verletzen, wenn ich seinen Gedanken zuhörte. Aber bis ich herausfand, wie ich das Gedankenlesen abschalten konnte, war keine Privatsphäre vor mir sicher. Und es war mir immer noch lieber, Rons Gedanken zu hören, als den Schmerz zu spüren, der in Tristan brodelte. Wenn ich mich immer nur auf einen Menschen konzentrierte, schaffte ich es vielleicht, heute nicht wahnsinnig zu werden.
Interessant war, dass die „Signalstärke“ scheinbar davon abhing, wie wichtig einem das war, woran man dachte. Rons Gefühle blieben etwa gleich stark, wenn es um Anne ging, aber weil er nicht pausenlos an sie dachte, konnte ich vieles von ihm nicht hören. Nur seine Gedanken an Anne waren laut genug für mich.
Am Ende der Stunde fragte ich mich ernsthaft, welche Geheimnisse Anne hatte. Es war klar, dass Ron noch richtig verliebt in sie war und sie die Beziehung beendet hatte. Vielleicht weil Ron eine seltsame Vorliebe für schwarze Katzen hatte? An die dachte er fast genauso oft wie an Anne.
Als es zur Pause läutete, sprang ich als Erste auf. Ich wollte nicht im Pulk stecken bleiben. Auf dem Hauptflur konnte ich mich nicht zurückhalten und ging schnell, wenigstens für einen Menschen. Erst draußen auf der Verbindungsbrücke wurde ich langsamer. Die Betonbrücke mit Metalldach überspannte die Senke zwischen den beiden Hügeln, auf denen das Hauptgebäude und das Mathegebäude standen. Seitlich führte eine Rampe von der Brücke runter in die Senke und zur Cafeteria. Auf dem Weg hinunter schlenderte ich nur noch. Ohne die vielen fremden Gedanken war es hier nett und ruhig, und ich war versucht, einfach hierzubleiben. Aber meine Freundinnen warteten auf mich.
Als ich die Cafeteriatür öffnete, schlug mir die Woge aus Gedanken mit solcher Wucht entgegen, dass ich ein paar Schritte zurücktaumelte.
Wow. Wenn es mit diesen blöden ASWs so heftig weiterging, mussten die Klatschmäuler in meinem Englischkurs gar nicht mehr lügen, wenn sie sagten, ich sei verrückt. Das würde mich wirklich völlig irre machen.
Ich stolperte bis zu unserem üblichen Tisch. Ausnahmsweise war ich ganz dankbar dafür, dass wir in dem zylinderförmigen Backsteinbau direkt am Mittelgang saßen. Die Mädels mussten etwas früher aus der zweiten Stunde gekommen sein. Ihre Sachen lagen schon am Tisch, und sie hatten sich bei der Essensausgabe angestellt.
Ich hätte mir wie immer Chili-Cheese-Pommes und eine Limo oder wenigstens einen Salat holen und so tun sollen, als würde ich essen. Aber ich bekam schon zu viel, wenn ich mir das nur vorstellte. Ich vergrub den Kopf in den Händen, schloss die Augen und betete, alle sollten einfach aufhören zu denken.
Als ich im letzten Jahr plötzlich die Gefühle von Menschen in meiner Nähe spüren konnte, war es immer am heftigsten gewesen, wenn ich aufgeregt oder aufgewühlt war. Fremde Gedanken zu hören war viel schlimmer, als nur Gefühle wahrzunehmen, aber vielleicht funktionierten diese ASW-Geschichten genauso. Ich versuchte ruhiger zu werden und konzentrierte mich auf meine Atmung, als würde ich Tai-Chi machen. Langsam einatmen. Anhalten. Langsam ausatmen. Ich stellte mir vor, ich würde zu Hause in meinem Zimmer Tai-Chi üben, und dachte an die kontrollierten Bewegungen, die mich immer an Wasser in Zeitlupe erinnerten.
Da. Jetzt wurden die Stimmen leiser. Ich würde schon klarkommen. Ich musste nur ruhig bleiben.
„Hier ist ja unser Vogue -Girl“, begrüßte mich Anne, als meine Freundinnen an unseren Tisch kamen.
Sie setzten sich, jede mit einem Tablett oder einer Plastikschale voll stinkendem Essen vor sich. Meine Augen sagten mir, dass mit ihrem Essen alles in Ordnung war und es eigentlich gut riechen sollte. Aber meine Nase und mein Magen hielten lautstark dagegen. Ich kam mir vor, als hätte mich jemand im Hochsommer mitten auf einer Müllhalde abgesetzt. Verwesungsgeruch stieg mir in die Nase,
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