Herzblut - Gegen alle Regeln (German Edition)
den ich jahrelang angespannt hatte. Es war eine Erleichterung, mir meine Liebe zu Tristan zu erlauben. Ich hatte viel zu lange dagegen angekämpft.
Schon in Tristans Nähe zu sein war eine Erleichterung, eine Flucht vor dem Rest der Welt und der Zukunft. Wenn wir allein waren, vergaß ich alle Regeln, die wir brachen. Bei ihm fühlte ich mich normal und gut und richtig.
Wenn ich mit ihm zusammen war, mochte ich mich. Und ich wusste genau, wer ich war.
Aber wenn wir getrennt waren, wusste ich wieder, in welcher Welt wir wirklich lebten, und alles stürzte auf mich ein. Ich erinnerte mich daran, dass wir die Regeln brachen, erinnerte mich an die Menschen, die ich belog, was mir jeden Tag schwerer fiel, und an alles, was Tristan wegen mir aufgeben musste. Und wenn das alles durch meinen Kopf schwirrte, mochte ich mich nicht besonders. Im Spiegel sah ich ein schwaches, egoistisches Mädchen, das seinen Gefühlen nachgab, statt das Richtige zu tun.
Wenn wir getrennt waren, erkannte ich mich selbst nicht wieder.
Ohne Tristan war mir auch bewusst, wie lange mein Vater schon fort war. Und es war ein großer Unterschied, ob ich seine Anrufe nicht beantwortete oder ob er überhaupt nicht anrief. Sogar als ich nicht mit ihm sprechen wollte, hatte Nanna immer wieder erwähnt, dass er sich gemeldet hatte. Jetzt hatte ich seit Oktober nichts von ihm gehört. Weil er mich vorgewarnt hatte, dass er sich vielleicht eine Weile nicht würde melden können, verdrängte ich meine Sorgen, so gut es ging. Aber er hatte nicht gesagt, dass er monatelang abtauchen würde.
Mom und Nanna schienen sich deshalb keine Gedanken zu machen. Sie erzählten mir, dass sich die Vampire etwa alle zehn Jahre zu einer großen Zusammenkunft trafen und er sicher bei den Vorbereitungen half. Ja, klar. Welche Feier kostete denn mehrere Monate Vorbereitungszeit und hielt einen davon ab, sich einmal in der Woche bei seinem Kind zu melden? Irgendwas war da im Busch. Aber solange mein Vater mich nicht einweihte, tappte ich im Dunkeln und versuchte, ihn nicht so wichtig zu nehmen, dass ich mir Sorgen machen würde.
Und versuchte gleichzeitig, mir nichts anmerken zu lassen. Wie hätte ich es auch erklären sollen?
An Silvester früh ins Bett zu gehen, wie ich es Tristan versprochen hatte, fiel mir schwerer als erwartet. Mom war zur Abwechslung extra nach Hause gekommen und wollte aufbleiben, um sich um Mitternacht die Wiederholung der Silvesterfeier aus New York anzusehen, wo das neue Jahr eine Stunde früher als bei uns eingeläutet wurde. Sie wollte mich sogar mit meinem Lieblingsgetränk locken: mit sprudelndem Cidre. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, dass ich kaum reden konnte. Aber ich sagte, ich sei müde, und ging schon um elf ins Bett, nachdem wir uns die Silvesterkugel in New York live angesehen hatten.
Was mich im Traum erwartete, ließ mich mein schlechtes Gewissen vorerst vergessen. Ich war mitten in einer Stadt in einer riesigen, lauten Menschenmenge gelandet. Der helle Wahnsinn.
„Tristan?“, rief ich, obwohl er mich so gar nicht hören konnte.
Inmitten der Menge war ein breiter Gang mit Seilen abgesperrt, über den Tristan mir entgegenkam. Er trug eine Jeans, einen schwarzen Wollmantel und den blau-goldenen Schal mit passender Mütze, den ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Dafür hatte ich vier Wochen lang bei Nanna lernen müssen. Unter der eng sitzenden Strickmütze lugten Tristans Haarspitzen heraus, an denen ich zu gern gezupft hätte. Die blaue Wolle unterstrich das Funkeln von Tristans grünen Augen.
„Gefällt es dir?“, fragte er und breitete die Arme aus.
„Das ist Wahnsinn! Wann hast du das gelernt?“ Wir konnten schon lange unsere gemeinsamen Träume ein bisschen beeinflussen, aber längst nicht in diesem Umfang.
„In den Nächten, in denen wir uns im Traum nicht treffen konnten, hatte ich genug Zeit zum Üben.“
„Ich bin echt beeindruckt. Aber wo genau soll das hier sein?“
„Das ist natürlich der Times Square in New York. Der schönste Ort der Welt, um das neue Jahr zu beginnen! Zumindest soweit ich mich von der Reise vom letzten Jahr her noch erinnere.“
Ich sah mich noch mal um, dieses Mal langsamer und mit nochmehr Bewunderung. „Wow. Das hast du alles aus dem Gedächtnis erschaffen?“
„Ja. Warst du schon mal im Big Apple?“
Ich schüttelte den Kopf. Meine Reisen beschränkten sich auf den Umzug von New Orleans zurück nach Osttexas, als ich zwei Jahre alt gewesen war, und kurze
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